„Grandios“, sagte ich überwältigt. „Hätte ich nicht erwartet, aber umso besser.“
Sie verließ das Zimmer und sagte noch: „Wenn Sie etwas brauchen, ich bin unten in der Küche.“
Ich öffnete das kleine Fenster. Der Blick ging auf einen kleinen Garten hinter dem Haus. Es gab einen Rasen, auf dem ein Tisch stand mit drei Stühlen. Es gab wieder diese rot-weiß karierte Tischdecke, einen zusammengeklappten Sonnenschirm, eine Handpumpe mit einem ausgehöhlten Baumstamm davor, der als Wasserspeicher diente.
Ich hatte das Gefühl, dass ich der einzige Gast war. Es war sehr still im Haus. Von der Vorderseite her war kein Verkehrslärm zu hören. Ich schlug die Decke meines Himmelbetts zurück, zog die Schuhe aus und legte mich mit den Kleidern hinein. Zwischen dem vorderen linken Bettpfosten und dem Baldachin hatte eine kleine Spinne ihr Netz gebaut. Sie verharrte reglos am Rande. Ich erinnerte mich an eine Situation kurz vor der Geburt meines Sohnes. Da meine damalige Frau mit dem Gebären nicht voran kam, hatte die Hebamme vorgeschlagen, ein Bad zu nehmen. Wie saßen beide auf dem Rand der Badewanne. In der Badewanne saß eine große Hausspinne. Wir draußen, sie drinnen, die Zeit schien still zu stehen. Es war ein Moment vollkommener Ruhe, wie ich ihn selten erlebt und nie vergessen habe. Eine Art Eins-Sein mit der Natur, dem Kosmos. Es gibt viele Worte dafür.
Ich beschloss, mit der Spinne in friedlicher Koexistenz zu leben. Ich musste an Inga denken. Mein schlechtes Gewissen quälte mich. Ich hätte nicht so einfach abhauen sollen. Ich überlegte, ob ich ihr einen Brief schreiben sollte, aber ich hatte nicht einmal ihre Adresse. Ich wusste, wo sie arbeitete, zur Not würde ich auch ihre Straße wieder finden, aber ich hatte auch nicht auf ihren Nachnamen geachtet.
Ich schlief über diesen Gedanken ein, träumte wie immer in letzter Zeit wirres Zeug, erwachte irgendwann und stellte nach einem Blick auf meine Uhr fest, dass es später Nachmittag war. Es war angenehm, nichts tun zu müssen, zu wissen, dass niemand auf mich wartete. Gleichzeitig kamen aber die verstohlenen Gedanken, wie lange das wohl so gehen könnte. Ich spürte körperlich das Unbehagen der Ungewissheit. Ich wusste nicht wie lange meine Geldmittel reichen würden, wie lange ich das so durchhalten würde. Mir war klar, dass ich bald eine Entscheidung über meine Zukunft treffen musste. Es grauste mir davor, diesen leichten Zustand, in dem ich mich befand, aufgeben zu müssen. Ich konnte mir gut vorstellen, für immer so einfach in den Tag hinein zu leben.
Ich konnte mich auch mit dem Gedanken anfreunden, allein zu leben, dachte aber auch daran, was im Alter sein würde, wenn ich vielleicht Pflege brauchte. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es sein würde. Ich war nicht in der Lage, diesem Teil meiner Zukunft ein Gesicht zu geben.
Wieder lief ein Film in meinem Kopf ab, Erinnerungen aus meiner Studentenzeit in Mannheim, Bundeswehr, Schulzeit, alles in hellem Licht, eine Menge Gerüche, die mich überfluteten. Gesichter, die ich lange vergessen hatte oder die ich hatte vergessen wollen, geisterten an mir vorbei, Freunde im Studentenwohnheim, Genossen in der Partei, Kollegen aus meinen verschiedenen Jobs, die ich angenommen hatte, um mir etwas leisten zu können, Menschen, mit denen ich Fußball oder Tennis gespielt hatte. Zu den allermeisten hatte ich keinen Kontakt mehr. Meist hatte es sich totgelaufen, hatte sich durch Umzug erledigt, oder ich hatte mich bewusst getrennt, weil ich sie irgendwann unerträglich fand.
Ein paar wenige begleiten oder verfolgten mich immer noch, je nachdem wie ich die Sache besah. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass die Lücken, die bestimmte Personen hinterließen, sich entweder schlossen oder dass andere die Positionen besetzten.
Ich spürte auch den Schmerz, wenn eine Lücke wie eine offene Wunde blieb. Davon gab es wenige, doch diese schmerzten heftig und lange. Die Zeit ist ein langsamer Heiler.
Seventy-nine fiel mir ein. Wir nannten sie so, weil sie im Studentenwohnheim in Zimmer 79 wohnte. Sie hieß Hilde, war aus Hannover und machte einen Sommerkurs an der Mannheimer Universität. Ich kam eines Abends relativ früh aus der Kneipe, fuhr mit dem Fahrstuhl in den Keller, um mir noch ein Bier aus dem Automaten zu holen. Sie wollte gerade einsteigen, als ich im Keller ankam. Wir grüßten uns, hatten uns wohl vorher im Haus schon einmal gesehen. Sie hielt die Fahrstuhltür offen, während ich mein Bier aus dem Automaten zog. Auf der Fahrt nach oben fragte ich sie, ob sie ihr Bier nicht bei mir trinken wollte. Sie stimmte fast zu schnell zu. Sie schien einsam, machte den Eindruck als wollte sie reden, fing schon im Fahrstuhl an, von sich zu erzählen.
Ich konnte schon immer gut zuhören, was mir oft hinderlich war, weil ich mich besonders gern von Frauen benutzen ließ, die bei mir ihre seelischen Beschwerden abladen wollten. Durch das Reden über die intimsten Dinge entstand meist eine Distanz, die nicht mehr aufzulösen war. Bei Hilde hatte ich Glück, dass sie so viel trank.
Nachdem wir uns auf meinem Bett in meiner kleinen Studentenbude, wo es weder Tisch noch Stuhl gab, niedergelassen hatten, erzählte sie mir endlose Details aus ihrem reichlich verkorksten Leben. Manchmal konnte ich den Faden nicht verfolgen, den sie vor mir abrollte. Zwischendurch fuhr ich mehrmals nach unten, um mehr Bier zu holen. Ihre Erzählungen wurden mit jedem Bier ein wenig wirrer. Ich spürte den Alkohol auch, ohne richtig betrunken zu werden. Ich hörte, wie sie umständlich eine verwirrende Missbrauchsgeschichte darstellte. Ihr Großvater hatte sie anscheinend an einer intimen Stelle berührt. Es hörte sich aber auch teilweise so an, als sei sie selbst gar nicht beteiligt gewesen, als habe sie das nur beobachtet.
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