»Halt, stehenbleiben, Polizei!«, schrie jemand, und ich hoffte, dass die beiden sofort abgegebenen Schüsse nur Warnschüsse in die Luft waren, denn ich war dicht hinter dem Flüchtenden. Während der Zug beschleunigte, lief der Baron mit weit ausgreifenden Schritten hinter den davonrollenden Wagen her. Er war jetzt neben dem zweiten oder dritten und sprang auf das Trittbrett, klammerte sich an einen Haltegriff und riss die erste Abteiltür auf. Ich holte rasch auf, erreichte den letzten Waggon und folgte dem Beispiel. Auch ich fand Halt auf dem Trittbrett, riss die Tür auf und ließ mich mehr hineinfallen, als dass ich den letzten Schritt machte. Der Zug hatte jetzt ein Tempo erreicht, das mich taumeln ließ, und ich konnte in letzter Minute verhindern, dass ich einer jungen Dame auf den Schoß fiel. Neben ihr saß ein älterer, würdiger Herr, der mir einen missbilligenden Blick zuwarf. Als ich mich mit einer Entschuldigung aufrappelte, erkannte ich, dass der Mann das Gewand eines Priesters trug. Die anderen Plätze waren nicht belegt. Ich zog die schlagende Abteiltür heran und verriegelte sie nach einem schnellen Blick den Zug entlang, der jetzt bereits seine Reisegeschwindigkeit erreicht hatte und durch die Landschaft eilte.
»Bitte um Verzeihung, aber es handelte sich um eine Notsituation. Gnädiges Fräulein, Hochwürden – wir werden sicher nicht länger das gemeinsame Reisevergnügen haben, so sehr ich das auch bedaure!«
Der Geistliche stieß ein verächtliches Schnauben aus.
»Wie stellen Sie sich denn das Verlassen des Abteiles vor? Es gibt keinen Seitengang, mein Herr!«
Darüber hatte ich nicht weiter nachgedacht, denn die amerikanischen Waggons, in denen ich bislang unterwegs gewesen bin, waren vollkommen anders konstruiert und erlaubten den Reisenden nicht nur ein Höchstmaß an Beweglichkeit, sondern zudem auch mehr Komfort in der Ausstattung.
»Sie müssen schon mit uns bis zum nächsten Halt Vorlieb nehmen!«, sagte jetzt das Fräulein leise. Als ich sie anblickte, errötete sie leicht und senkte den Kopf, sodass ihr Gesicht wieder im Halbschatten ihres Hutes lag. Sie war keine Schönheit, aber auch nicht hässlich, kurz, eine Frau, die man vielleicht beim ersten Blick nicht richtig wahrnahm, dabei aber doch freundlich und warmherzig, wie sich bald erweisen sollte.
»Bitte nochmals um Verzeihung, Fräulein. Es ging bei meiner etwas unkonventionellen Art, diesen Zug noch zu erreichen, um Leben und Tod. Was ist denn die nächste Station?«
Die junge Dame sah rasch zu dem Geistlichen hinüber, der mit wütendem Gesicht aus dem Fenster starrte, als ginge ihn das alles im Abteil nichts mehr an.
»Das wird Laibach sein, in wohl erst sieben Stunden.«
»Oh, das wusste ich nicht. Dann also auf eine gute, gemeinsame Fahrt!«
Ich richtete mich an der Abteiltür auf meinem Sitz ein wenig bequem ein und beobachtete die dunkle Landschaft, durch die wir eilten. Meine Gedanken waren mehr bei den Gefährten, die ich in Innsbruck zurückgelassen hatte – und meine beiden Gewehre, die mir so oft treue Dienste leisteten. Aber ich war zuversichtlich, dass Sepp nach den Ereignissen auf dem Bahnhof die richtigen Schlüsse ziehen würde.
Und ich war im selben Zug wie der flüchtende Anarchist und Attentäter, der sich als Baron bezeichnet hatte. Großkomtur einer Loge, die vom König selbst geführt wurde! Was für ein Wahnsinn!, dachte ich. War es denkbar, dass es eine Verbindung zu den Ereignissen in London gab? Darauf schien die mehrfache Erwähnung des Georg-Orden zu deuten, aber man konnte ja nicht die altehrwürdige Einrichtung mit diesen Verbrechen in Verbindung bringen!‹
10. Kapitel
Da es unterwegs keinen weiteren Halt gab und wir zudem durch das Gebirge fuhren, gab es für mich keinen Grund, ständig aus dem Fenster zu sehen und darauf zu achten, ob jemand unterwegs ausstieg, der Ähnlichkeit mit dem Verfolgten hatte. Ich war auch überzeugt, dass der Mann sein Äußeres wieder verändert hatte, wenn er auch vielleicht auf wertvolle Utensilien verzichten musste, die er in seiner Reisetasche zurückgelassen hatte. Aber eine Perücke ist schnell entfernt, Haare kann man auch mit einer Tinktur färben, die in einem Fläschchen in der Kleidung steckte.
Es war warm im Abteil, aber ich konnte nicht riskieren, eines der Fenster zu öffnen, denn das Fräulein schien zu frösteln. Jedenfalls hatte sie sich nach einer leise geführten Unterhaltung mit dem Geistlichen, der sie vermutlich begleitete, einen großen Schal aus einem Korb gezogen und ihn sich mehrfach um den Hals gewickelt. So geschützt, lehnte sie sich in die Abteilecke mir gegenüber und schien bereits nach kurzer Zeit zu schlafen. Ich musste mich mehrfach noch zurechtrücken, denn ich trug ja den Revolver im hinteren Hosenbund, der auf unangenehme Weise drückte.
Auch ich wurde müde, es ging mittlerweile auf Mitternacht zu, und die Wärme sowie das gleichmäßige Rattern der Räder lullten mich ein. Wir saßen nicht vollständig im Dunkeln, man hatte nur die einzelne Lampe im Abteil so geschaltet, dass ihr Licht nicht störte, aber zur Orientierung ausreichte. Noch einmal gähnte ich herzhaft, lehnte mich an und – war ebenfalls bald eingeschlafen.
Ich schreckte hoch, weil mich etwas berührt hatte.
Als ich die Augen aufschlug, setzte sich der Priester gerade wieder zurück. Er musste sich weit zu mir herübergebeugt haben, aber – aus welchem Grund? Rasch fuhr meine Hand in die Jackentasche, wo ich meine Brieftasche bewahrte. Alles war noch da, ein Blick zu dem Mann brachte auch keine nähere Erkenntnis, denn er tat so, als hätte er sich nur eine andere Lage auf dem Sitz gesucht.
Seltsam!
Da fiel mein Blick auf ein winziges Stück Papier, das unmittelbar vor meinen Füßen lag. Ich entdeckte es auch nur durch seine helle Farbe, denn die trübe Deckenbeleuchtung reichte kaum bis auf den Boden. Mit dem Fuß fischte ich es näher heran, bückte mich und hob es auf. Rasch wickelte ich das klein zusammengefaltete Papier auseinander und erstarrte. Ich blickte auf einen Ordensstern, der eine Unregelmäßigkeit aufwies. In der Mitte des achtzackigen Sterns befand sich nicht das übliche, rote Balkenkreuz, sondern die Darstellung eines richtigen Kreuzes, wie wir es als christliches Symbol kennen.
Allerdings stand es auf dem Kopf.
Darunter entzifferte ich den lateinischen Text: ›quandius vita vixerit‹, was ich zunächst mit »wenn das Leben gelebt« übersetzte. Was aber hatte das zu bedeuten, und wollte der Priester mir diesen Zettel in die Kleidung stecken? Dann fiel mir ein, dass ich diese drei Wörter einmal gelesen hatte, als ich mich mit alten Flüchen beschäftigte, auch im Zusammenhang mit den Funden in Mesopotamien. Im Zusammenhang mit einem Text, den man den Römern zuschrieb, hieß es dort auch – ich erinnerte mich natürlich nicht wörtlich, schlug es aber später bei passender Gelegenheit nach – ›gib ihm bösen Sinn, bösen Tod, solange er das Leben gelebt hat, damit er mit dem ganzen Leib sehen soll, dass er stirbt‹, und das war nun das Motto eines Ordens? Oder ahmte da jemand auf üble Weise einen alten, ehrwürdigen Orden nach, um vielleicht nicht weiter aufzufallen. Tatsächlich hatte die Abbildung durchaus Ähnlichkeit mit dem Georgsorden, wie ich ihn bei einem früheren Besuch am Rocke König Ludwigs gesehen und seinerzeit Sepp danach gefragt hatte. Ich hielt dabei den Zettel zwischen den Fingern und wunderte mich plötzlich über den rauen Rand. Als ich ihn dicht an die Augen führte, erkannte ich ganz feine Punkte und Linien, die mich an die Brailleschrift erinnerte. Es war der Franzose Louis Braille, der diese Schrift für die Blinden entwickelt hatte. Die Lösung fand ich erst, als ich das Papier an die Scheibe des Abteils hielt und das Licht hindurchfiel. Es war eine weitere Textzeile, die ich Zeichen für Zeichen deutete: Saint George’s Black Lions. Das musste der Name dieser Vereinigung sein. Ob es sich um einen Orden, eine Loge oder eine anarchistische Bewegung handelte, konnte ich dem nicht entnehmen,