Die Miene des Polizisten verfinsterte sich deutlich.
»Und was haben Sie in dieser Spelunke zu suchen gehabt?«
»Hören Sie, guter Mann, die Sache eilt jetzt wirklich, wenn wir verhindern wollen, dass ein Mörder und Bombenleger entkommt!«
Kurz zog der Mann die Augenbrauen hoch, dann ließ er sich zu der Bemerkung herab: »Mag ja sein, dass Sie recht haben. Aber der Kommissar ist genau dorthin geeilt. Vor vielleicht einer Viertelstunde.«
»Zum Treffpunkt dieser … Kerle?«
Der Polizist presste die Lippen fest aufeinander und schien nicht bereit zu sein, sich weiter zu äußern. Also entschloss ich mich, in unser kleines Hotel zurückzukehren und hoffte, dort Sepp und Anton anzutreffen. Doch auch diese Hoffnung erfüllte sich nicht, sie waren dort noch gar nicht wieder gesehen worden. Ihre Zimmerschlüssel hingen an den Haken. Deshalb ließ ich mir meinen Schlüssel und den vom Bad geben, reinigte mich gründlich, zog mir frische Sachen an und nahm meinen Colt Navy aus meiner Reisetasche. Ich hatte nach dem Verlust meiner Adams Revolver die Vorteile dieser Waffe kennengelernt und war froh, sie für alle Fälle mit auf die Gamsjagd genommen zu haben.
Über diese Dinge war es neun Uhr geworden und von meinen Freunden nichts zu sehen, deshalb machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof. Erfreut stellte ich fest, dass es hier wirklich von uniformierten Beamten geradezu wimmelte. Niemand kam durch die Sperren, ohne sich richtig ausweisen zu können. Außerdem würde es hier sicherlich noch zahlreiche Geheime geben, die in ziviler Kleidung Ausschau hielten.
Ich ging hinüber zu einem Geschäft in der Bahnhofshalle, das in seiner Auslage einige internationale Zeitungen hatte und tat, als würde ich die Schlagzeilen studieren, während ich aufmerksam die Gesichter der vorübereilenden Reisenden musterte. Ein Blick auf die große Bahnhofsuhr zeigte mir, dass es noch reichlich eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Zuges nach Triest war. Gerade entschuldigte sich jemand neben mir mit ein paar gemurmelten Worten und griff sich eine der oberen Zeitungen aus dem Fach, als mein Blick auf die darunter liegende englische Tageszeitung The Times fiel. In großer Aufmachung wurde über einen Bombenanschlag auf einen Abgeordneten des Oberhauses berichtet. Ich überflog die erste Seite, weil ich die Parallelen zu den hiesigen Ereignissen erstaunlich fand. Hier wie dort war eine Gruppe Anarchisten dabei, Bombenanschläge zu verüben, ohne dass man ihre Ziele kannte. Ich blätterte die Titelseite um und las mich gleich darauf fest, denn in der Fortsetzung des Artikels wurde über einen Orden aus Deutschland berichtet, der sich von dem ursprünglichen durch Streit abgespalten hatte. Gerade fand ich einen Hinweis auf die Verbindung zu anderen Gruppen in Österreich, der Schweiz, Italien und – Deutschland, als ein kleines, leicht gebeugtes Männlein mich am Ärmel zupfte und auf die Times deutete.
»Vor dem Lesen bitte bezahlen, der Herr!«
»Oh, ja, natürlich!«
Ich zog meine Börse heraus, bezahlte und nahm die Zeitung mit, denn ich hatte gerade vor der Unterbrechung einen weiteren Artikel entdeckt, der sich mit dem deutschen Orden beschäftigte. Er beschrieb ziemlich genau den ursprünglichen Zweck zur Zeit der Kreuzritter. Damals entstanden ja zahlreiche solcher Orden als Schutzverbände; unter ihnen sicher die berühmtesten, die Templer. Und in der Zeitung waren auch die Namen einiger Großkomture vermerkt, darunter Baron Hermann von Falkenstein. Ich setzte mich auf eine der Holzbänke und vertiefte mich erneut in die sehr aufschlussreiche Lektüre, als mein Blick zufällig auf die Schuhe eines Mannes fiel, der dicht an mir vorüberging. Nicht, dass an den knöchelhohen Stiefeletten etwa Staub oder Dreck klebte. Nein, sie waren so blitzblank poliert, dass man sich darin spiegeln konnte.
Umso mehr fiel aber die wohl drei Zentimeter lange dicke Schramme auf, die sich quer über das Oberleder zog. Ich hatte Schuhe mit einer solchen Schramme zuletzt in der Pirschhütte gesehen. Der Baron war damit beschäftigt, seine Schuhe sorgfältig zu putzen und fluchte gerade auf sehr unpassende Weise über die Schramme, die er sich im Vorübergehen an einem vorstehenden Nagel gerissen hatte.
Von den Schuhen ging mein Blick sofort an der langen Gestalt aufwärts, und was ich sah, konnte durchaus zum Baron passen. Allerdings nicht das ziemlich lange, leicht gewellte, graue Haar, das ihm, einem Bohème nicht unähnlich, bis über den Kragen reichte. Dazu trug der Mann einen hellen, leicht taillierten Übermantel und einen breitrandigen Hut. Ich war alarmiert, erhob mich sofort, kaum dass er ein paar Schritte vorüber war, und folgte dem Mann.
Ein Blick zur Bahnhofsuhr – der Zug würde in fünf Minuten abfahren. Alles deutete darauf hin, dass dieser Reisende den Zug nach Triest besteigen wollte, aber er schien noch viel Zeit zu haben. In der linken Hand trug er eine kleine, leichte Reisetasche, in der rechten schwang er unternehmungslustig einen Stock, den er immer mit Nachdruck auf die Steinplatten des Perrons (Bahnsteig) stieß.
Ich war dicht hinter ihm, als er die Sperre erreichte.
Schon stellte er seine Reisetasche ab, griff in die Tasche, holte ein Papier heraus und hielt es dem Kontrolleur hin. Ich stellte mich absichtlich etwas abseits, um ihn besser beobachten zu können. Doch sein breitrandiger Hut ließ es nicht zu, dass ich sein Gesicht erkennen konnte. Das Einzige, was ich im unteren Bereich des Kopfes ausmachen konnte, war ein grauer Vollbart.
Der Bahnkontrolleur sagte etwas zu den beiden Polizisten, die links und rechts neben dem schmalen Durchgang standen, die Gewehre geschultert. Jetzt trat einer der beiden Uniformierten vor und warf einen Blick auf das Dokument.
»Sie sind Herr von Seydlitz aus Hamburg?«, erkundigte sich der Polizist, das Ausweispapier in der Hand haltend.
»So ist es!«, lautete die kurze, aber gut verständliche Antwort.
»In Geschäften unterwegs nach Triest?«, erkundigte sich der Beamte weiter.
»Ja, natürlich, warum fragen Sie? Der Zug wird gleich abfahren, ich möchte einsteigen!«, erwiderte der Reisende.
»Moment bitte, warten Sie hier!«
Der Beamte trat zu seinem Kollegen, zeigte ihm das Papier, und jetzt beugten sich beide über das gestempelte Dokument, um es genau zu prüfen.
»Bitte, meine Herren, was gibt es da so lange zu prüfen? Meine Papiere sind in Ordnung, ich fahre seit Jahren regelmäßig nach Triest, um mich mit meinen Geschäftspartnern aus Kairo zu treffen.«
Der erste Polizist blickte ihn mit strenger Miene an.
»So, nach Kairo wollen Sie also reisen?«
»Nein, ich fahre nach Triest und treffe mich dort mit anderen Kaufleuten aus Kairo! Bitte, beeilen Sie sich doch, es ist für mich sehr wichtig, dass ich diesen Zug erreiche! Eben werden die Abteile geschlossen!«
»Moment, bevor wir diese Papiere nicht überprüft haben, reisen Sie nirgendwohin!«
Der Polizist wandte sich ab und machte ein paar Schritte auf das kleine Häuschen zu, das mitten auf dem Perron stand und sonst wohl dem Bahnpersonal zum Aufenthalt diente. Kaum stand er vor der Tür, als sie sich öffnete, und zu meiner grenzenlosen Überraschung kein anderer als Kommissar Waller heraustrat. Der Polizist flüsterte ihm hastig etwas zu, und der Kopf des Kommissars flog herum, um den Fremden zu mustern.
Ich bemerkte eine Veränderung in der Haltung des Mannes.
Von einem Augenblick zum anderen hatte er sich völlig verwandelt. War er eben noch ein forsch auftretender Handlungsreisender, so schien er jetzt angespannt und wachsam die Polizisten zu mustern, die eben an die Absperrung zurückkehrten, wo der zweite Uniformierte wie eine Statue stand.
Ein Pfiff ertönte, und ich hörte das typische Geräusch der zischenden Ventile, dann gab es einen Ruck an der großen Pleuelstange, ein Zittern schien durch das gewaltige, schwarze Ungetüm zu laufen, das kurz vor dem Ende des Perrons bereit zur Abfahrt stand.
Der Grauhaarige griff mit der Linken in die Tasche seines Überziehers, als sich die beiden Polizisten näherten. Zugleich ruckte nun die Maschine laut an, die Räder bewegten sich und schienen durchzudrehen. Die Waggons schlugen mit ihren Puffern gegeneinander, und als die beiden Polizisten eintrafen, schrie