Mein Blick schweift über das Sportgelände. Auf der riesigen, frisch gemähten Wiese stehen sich zwei große Fußballtore gegenüber und auch die weißen Linien sind von hier aus gut sichtbar.
Links neben unseren Hartplätzen sind die Sprungflächen. Wenn ich meinen Blick nach oben richte, sehe ich das große Schulgebäude in seiner kompletten Pracht vor mir. Unser Umkleideraum ist Teil des ersten Gebäudeblocks, aus dem jetzt unsere Jungs herauskommen.
Als ich Renko erkenne, fühlt es sich an, als würde mein Herz einen Salto machen. Er und Emilian winken uns fröhlich zu und ich erwidere die Geste. Talika nicht, denn sie ist immer noch mit dem Startblock beschäftigt.
»Wenn die Teile nicht so klemmen würden, hätte ich wenigstens schon mal eine Chance, überhaupt loslaufen zu können!«
»Warte, ich helfe dir.« Mit Leichtigkeit stelle ich die Fußstützen auf die richtige Höhe.
Talika stellt sich auf. »Endlich!«
»Ich weiß gar nicht, warum du das immer so kompliziert findest. Das sind zwei, drei schnelle Handgriffe.«
»Für dich vielleicht! Kannst du mir dafür sagen, was man tun und beachten muss, wenn man Nasenbluten bekommt?«
»Okay, ist ja schon gut. Jeder hat seine Stärken.«
Talika lächelt mich an. Sie ist diejenige, die sich stundenlang damit beschäftigen kann, Bücher über gesunde Ernährung, Medikamente und Heilung zu lesen.
»Anyta! Talika! Wird das heute eigentlich nochmal was?« Eben noch war unsere Sportlehrerin die ganze Zeit bei den Springerinnen und hat Talika und mich – die Einzigen, die sich heute für Laufen gemeldet haben – offenbar total vergessen.
»Entschuldigung! Wir kommen schon!«
Wir gehen auf unsere Positionen, beobachten die runde Klappe weiter vorne und warten auf den Knall, der uns das Startsignal gibt. Langsam zähle ich die Schritte mit.
»Drei, auf die Plätze - Zwei, fertig - Eins und los!«
In diesem Augenblick hören wir das erwartete Geräusch und laufen los. In meinem Kopf ist im Moment nur noch der Drang, schneller zu werden. Ich setze einen Fuß vor den nächsten, ohne darüber nachzudenken. Meine Umgebung nehme ich gar nicht mehr richtig wahr. Ich laufe weiter und weiter.
Plötzlich höre ich ein lautes »STOP!« und bin in der Gegenwart. Ich stehe bereits auf dem Rasen, weit hinter der Ziellinie. Talika läuft gerade über das Ziel und ringt nach Luft.
»Das war ein neuer Rekord, Anyta! Sechzig Meter in nur sieben Sekunden!« Die Sportlehrerin lächelt, während sie die Zahlen auf ihrem Computerarmreif vergleicht.
»Danke, Frau Schöffler«, sage ich stolz.
»Und wie viel habe ich?«, fragt Talika und schnappt nach Luft.
»Talika Evans, wo haben wir dich denn? Du warst 10,7 Sekunden. Auch nicht übel. Das ist dein persönlicher Rekord.«
»Juhu!«, ruft Talika begeistert.
EMILIAN
»Nehmt bitte diese Sicherungsseile an euch. Ihr sollt zum Aufwärmen diese Kletterwand hinaufklettern, ist die einfache Stufe«, sagt Herr Schöffler, nachdem er die Fußballer versorgt hat.
Ich schaue zur Fußballwiese und beobachte das Team von Julius, das sich wieder bedrohlich nah am Tor von Renkos Mannschaft aufhält. Wenn ich heute statt Klettern Fußball genommen hätte, könnte ich meinem besten Freund jetzt helfen, aber Fußball wird öfters angeboten und ich möchte das Klettern unbedingt lernen.
»Schön einen Fuß nach dem anderen setzen, verstanden?«
Wir nicken und rüsten uns für den Aufstieg.
Samuel seufzt. »Warum habe ich Idiot das Klettern genommen? Ich hätte doch auch jetzt hinter einem Ball herlaufen können.«
»Du kannst jederzeit aussteigen, Samuel. Du musst es nur sagen.«
»Nein, nein, Herr Schöffler. Klappt schon. Irgendwie ...« Beim letzten Wort zittert seine Stimme.
Ich klopfe ihm aufmunternd auf die Schulter. »So kenne ich dich gar nicht, Samuel. Bist du nicht eben noch die Treppen nach oben gesprintet, auf dem Weg in den zwölften Stock?«
»Das ist was völlig anderes!«
Wir beginnen mit dem Aufstieg.
»Nein, Niko! Du musst dich auf den kommenden Schritt fixieren, nicht nach unten schauen. Das verstärkt nur die Angst und verunsichert dich.«
Niko ist schon ziemlich weit oben.
Als meine Hand den nächsten Boulderstein berührt, schrecke ich zusammen. Er erinnert mich an die blaue Kugel von gestern Abend. Bekomme ich jetzt erneut dieses Bild vor Augen?
Ich schüttle meinen Kopf, um meine Gedanken wieder zu sortieren, und sehe wieder zu Samuel, der immer noch mit einem Fuß auf dem Boden steht.
»Komm gar nicht erst auf die Idee, mir zu helfen!«, droht er mir. Auf seiner Haut bilden sich jetzt schon kleine Schweißperlen und seine sonst so freundlichen Augen verengen sich zu Schlitzen, als er mit grimmigem Blick auf meine Antwort wartet.
»Hatte ich nicht vor«, sage ich nur und mache die nächsten zwei Schritte.
»Und auf geht’s, Samuel!«, fordert unser Lehrer ihn auf.
Angespannt versucht er die Kletterwand zu erklimmen, doch er kommt nicht weit. Nach dem dritten Schritt rutscht er bereits ab. Er rappelt sich wieder auf, kommt zwei weitere Etappen nach oben, nur um dort erneut abzurutschen.
»Warte, Samuel, ich helfe dir«, sagt schließlich unser Sportlehrer und gibt ihm Anweisungen, welche der bunten Klettergriffe für Anfänger eher nützlich sind.
Ich bin inzwischen schon ganz oben angekommen und beobachte die beiden. Das Klettern ging so schnell, dass ich mich schon fast nicht mehr daran erinnern kann, wie ich hier hochgekommen bin. Wahrscheinlich war ich durch das Gespräch der beiden abgelenkt.
ANYTA
»Hey, Talika! Hast du Renkos Schuss gesehen? Der wäre fast drin gewesen!«
»Nein, tut mir leid. Ich habe gerade Fannys Sprung beobachtet. Sie ist beim Springen genauso gut wie du beim Laufen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie gerade ihren Rekord von letzter Woche gebrochen hat. Eine Sensation!«
»Wer hätte gedacht, dass das Fräulein Fass-meine-Nägel-an-und-du-bekommst-es-mit-mir-zu-tun so gut springen kann?«
»Sie mag zwar nur Schminke und Äußerlichkeiten im Kopf haben, aber das Springen beherrscht sie«, verteidigt sie Talika.
Ich will noch auf ihren Kommentar reagieren, da zieht mich etwas anderes in seinen Bann: Julius sieht zu uns beiden herüber. Als er bemerkt, dass es mir aufgefallen ist, lächelt er mich an und winkt mir schüchtern zu. Ich winke zurück.
Jubelschreie schrecken mich auf, der Schlusspfiff beendet das Spiel. Ich sehe auf die elektronische Tafel, die den Spielstand anzeigt, und kann nicht anders, als vor Freude zu springen.
»Ja! Renkos Mannschaft hat Unentschieden gespielt!«
Talika lächelt mich an. »Da freut sich aber jemand.«
»Ja, irgendwie schon«, antworte ich etwas verlegen und sehe zu Emilian und Samuel, die gerade vom Klettertraining zurückkommen.
»Haben wir etwas verpasst?«, fragt Emilian neugierig.
»Renko hat Unentschieden gespielt«, antwortet Talika