Mir fällt nur eines ein, das mir möglicherweise Antworten auf meine vielen Fragen geben kann.
Unter dem Schrank hole ich die merkwürdige blaue Schachtel hervor. Vorsichtig fahre ich mit der Hand darüber, setze mich wieder hin und öffne sie erneut.
Ich weiß gar nicht mehr, was mich eigentlich so wütend gemacht hat, als ich die Kiste weggeschoben habe. Natürlich habe ich noch das Bild von der Kugel im Kopf. Ich will sie erneut sehen und mehr über sie herausfinden.
Ein Gegenstand ist mir vorher nicht aufgefallen: ein kleines Buch. In Großbuchstaben steht »ANLEITUNG« darauf.
Neugierig schlage ich das Heft auf und finde darin eine Menge Zeichnungen von kleinen schwarzweißen Brettern. Die merkwürdigen Figuren sind auch auf ihnen abgebildet. An den Rändern stehen Kleinbuchstaben von a bis h und Ziffern von 1 bis 8.
Noch ein wenig ratlos blättere ich durch das Büchlein. Es erklärt die Figuren und ich kann ablesen, wie sie auf dem Brett aufgestellt werden.
Mein Blick wandert auf das sogenannte Schachbrett. Irgendwie bekomme ich Lust, das Spiel einmal auszuprobieren. Kann man es auch alleine spielen?
Ich blättere weiter durch das Heft, auf der Suche nach einer Antwort.
Schlagartig bekomme ich Bauchweh.
Ich greife nach dem Karton, in dem die Figuren aufbewahrt sind, doch bevor ich ihn erreiche, verschwimmt erneut alles um mich herum. Ein überwältigendes Schwindelgefühl breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Ich ziehe meine Beine an und stecke meinen Kopf dazwischen. Dann schließe ich meine Augen, in der Hoffnung, das unheimliche Gefühl wieder loszuwerden. Doch es wird eher schlimmer. Ich presse meine Augenlider noch stärker zu, als könnte ich es so stoppen.
»Emilian ... Emilian ... Es ist soweit.«
Eine Stimme lässt mich erschrocken hochfahren.
»Hab keine Angst ...«
Ich schließe meine Augen erneut. Was passiert mit mir?
»Wer bist du?«, rufe ich in die Stille meines Zimmers. »Was willst du von mir?«
Dann konzentriert sich der Wirbelsturm von Farben vor meinem inneren Auge zu einem klaren Bild: Die große Kugel ist genauso farbenfroh und lebendig wie das erste Mal. Sie wirkt so beruhigend auf mich und ich spüre wieder die starke Anziehung.
Doch dann nähern sich von allen Seiten viele kleine Lichtkugeln. Bedrohlich fliegen sie direkt auf die große Kugel zu. Ich bekomme Herzrasen, mir bleibt die Luft zum Atmen weg.
Das Bild verschwimmt ein weiteres Mal vor meinen Augen und wenige Sekunden später sehe ich wieder meine dunkelgrüne Zimmerwand vor mir.
Das Schachbrett liegt neben mir, das Anleitungsheft auf meinem Schoß. Es ist, als ob nichts gewesen wäre.
Gar nichts.
Was passiert mit mir?
Mein Herz rast immer noch und es wird noch schneller, als mein Blick auf eine der schwarzen Figuren fällt. Sie gleicht der Figur, die ich schon beim ersten Mal in der Hand gehalten habe. Sie hat ebenfalls ein Kreuz an ihrer Spitze. Sofort schießt mir ein bestimmtes Wort in mein Bewusstsein.
Der König.
Was soll das bedeuten? Was ist ein König? Und warum übt diese schwarze Figur jetzt plötzlich eine ähnliche Anziehungskraft auf mich aus wie die weiße zuvor?
Ich muss dringend mit Anyta und Renko darüber sprechen. Tief in meinem Innern spüre ich, dass auch das rothaarige Mädchen etwas damit zu tun hat.
4
RENKO
Geduldig wartend stehe ich vor Anytas Haustür, checke nochmal meine blonde Wuschelfrisur und überprüfe, ob ich eventuell Mundgeruch habe. Das Ergebnis gefällt mir.
Die letzten Tage sind wie im Flug vergangen und bestanden hauptsächlich aus Lernen. Meine Gedanken sind, seit unserem letzten Treffen beim See, immer wieder zu Anyta gewandert. Ich hoffe sehr, dass sie sich das Treffen mit Julius nochmal überlegt. Oder dass ich mit dem Geständnis meiner Gefühle schneller bin als er. Wobei der Mädchenschwarm schon einen nicht zu unterschätzenden Vorteil genießt. Immerhin spricht er schon von einem Date. Bei Anyta und mir ist es meistens eher ein Treffen unter Freunden oder ein »Treffen zum Einkaufen« am Samstagnachmittag. So wie heute.
Als sich die Haustür mit spiegelglatter Metalloberfläche endlich öffnet, tritt ein wunderschönes Mädchen in einem hübschen blauen Sommerkleid heraus. Auf ihren Lippen macht sich ein süßes Lächeln breit. »Ah, du bist schon da?«
»Ja, ich wollte dich abholen«, sage ich lässig.
»Das ist lieb von dir! Weißt du denn, was ihr alles braucht?«
»Klar, meine Mutter hat mir einen extra langen Zettel gegeben. Wenn ich das alles besorgen kann, werden wir ganz sicher in den nächsten zwei Monaten nicht verhungern. Zur Sicherheit habe ich sogar zwei Zahlkarten dabei.«
»Klingt nach einer Menge Zeug. Wie lange seid ihr denn schon nicht mehr einkaufen gewesen?« Auf Anytas Wange bilden sich kleine Grübchen.
»Puh«, sinniere ich. »Gute Frage.«
Anyta lacht zur Antwort, dann tapsen wir gemeinsam über die grauen Steinplatten zurück zur Hauptstraße, die uns zur Altstadt führt. Zwischen den großen platinfarbenen Hochhäusern fühlt man sich so klein wie eine Ameise. Das Sonnenlicht wird an den großen Glasscheiben reflektiert und blendet mich.
Die kleine schwarze Tasche an Anytas Schulter pendelt bei jedem ihrer Schritte hin und her und an dem spiralförmigen Schlüsselanhänger klingelt fröhlich ein winziges Glöckchen.
Dieses Accessoire habe ich ihr geschenkt, als wir zehn Jahre alt waren, an ihrem Geburtstag im Dezember. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag für diese Jahreszeit und wir saßen an unserem Steg am zugefrorenen See.
Damals waren Anytas Zöpfe noch kurz und sie tippte immer wieder mit ihren Zehenspitzen auf der kleinen Wasserpfütze herum, die das Eis uns noch übriggelassen hatte. Ich hatte keine Zeit, zu ihrer Geburtstagsfeier zu kommen, daher ließen uns unsere Eltern noch eine halbe Stunde Zeit am See verbringen. Natürlich waren wir nicht ganz alleine, ihre Eltern haben in Sichtweite gesessen, aber für uns war es eine große Welt für uns allein.
Ich wusste, dass Anyta Glöckchen liebt, also hatte ich mich spontan für diesen Anhänger entschieden. Als ich ihn ihr gab, war sie so glücklich darüber, dass sie mich ganz fest umarmte und wir dadurch fast in den See gefallen wären.
Der Luftzug eines vorbeifliegenden Vogels holt mich zurück in die Gegenwart. Mich plagen Schuldgefühle, weil ich an die Vergangenheit gedacht habe und wir somit kaum miteinander reden.
Ich schaue zu Anyta, die mit mir noch immer im Gleichschritt die Straße entlang geht. Wir sind kurz vor der Grenze zur Altstadt.
»Du hast den Anhänger ja immer noch«, beende ich die Stille.
»Ja, klar, er erinnert mich immer an den Moment beim See.«
Mein Herz schlägt schneller. »Du erinnerst dich noch daran?«
Anyta sieht mich streng an. »Du