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Der Mensch ist ein von evolutionärer Intelligenz erschaffenes biologisches Geschöpf mit mentalen Funktionen, deren Entstehung ich im 1. Teil dieses Buches zu beschreiben versuche. Ein von der biologischen- und mentalen Evolution gestaltetes Menschenbild entsteht und grenzt sich ab von philosophischen- oder religiösen Alternativen. Der eigentliche Anlass dieses Buches aber ist eine Verbindung von mentaler Evolution des Menschen mit seiner Geschichte. Werden evolutionär entstandene Fähigkeiten des Menschen im geschichtlichen Ablauf verwendet oder werden diese von kulturellen Erkenntnissen ergänzt oder gar ersetzt? Was hat der Mensch in seiner Geschichte aus seinen evolutionär erworbenen Fähigkeiten gemacht? Hat er sie genützt oder hat er sie sogar verachtet, weil er in eine von Gott erschaffene Welt entführt wurde und der Evolution misstraute? In Teil 2 analysiere ich deshalb die mehrere Tausend Jahre alten Geschichten von China, von Indien und vom christlichen Abendland. Es sind die bevölkerungs-reichsten Regionen unserer Erde. Alle drei verfügen über eine Jahrtausende alte- und durch Erzählungen und Schriften kommunizierte Geschichte von Ethik und menschlichem Verhalten. Auch spielen alle drei Regionen in der derzeitigen Politik eine wichtige Rolle und sind wirtschaftlich vernetzt. In allen drei Regionen wird schon lange vor der christlichen Zeitenwende eine gesellschaftliche Orientierung angestoßen mit unterschiedlichem Bezug zur mentalen Evolution des Menschen. Nicht einzelne historische Events interessieren in der Geschichte dieser Regionen, sondern ihre früh schon angelegten gesellschaftlichen Leitbilder, die bis heute ihre Geschichte bestimmt haben und noch immer bestimmen. Eine von mentalen Leitbildern geformte Geschichte-, eine Mentalgeschichte als Verbindung von Evolution und Geschichte, eine Geschichte menschlichen Verhaltens und nicht die Kulturgeschichte dieser Länder interessiert. Obgleich alle Menschen auf unserer Erde über ein gemeinsames evolutionäres Erbe verfügen, offenbaren die Geschichten von China, von Indien und vom christlichen Abendland erhebliche Unterschiede. Wie sind diese historischen Unterschiede entstanden, wenn wir Menschen alle das gleiche genetische Erbe in uns tragen?
Geschichte ist bisher fast immer eine Abfolge von Kulturen, die aufblühen und wieder verschwinden. Sie entspringen Mythen, religiösen Vorstellungen oder Ideen einzelner Menschen und werden wieder verschwinden. Wenn Oswald Spengler in seinem Jahrhundertbuch über verschwundene Kulturen vom „Untergang des Abendlandes“133 spricht, so prognostiziert er nicht den Untergang des Abendlandes, sondern das Verschwinden einer abendländischen-, von menschlichen Ideen entworfenen Kultur. Nicht ohne Grund erwähne ich dieses Beispiel einer abendländischen Kultur: Geschichte ist zwar auch eine Abfolge von Kulturen, doch wird menschliche Geschichte nachhaltig und langfristig vom menschlichen Verhalten und vom mentalen Erbe des Menschen gelenkt. In der Evolution überlebt nur, wenn einem evolutionären Erbe die Einpassung in ein gegebenes Umfeld gelingt. In der menschlichen Geschichte werden das Verhalten des Menschen und nicht ideelle Entwürfe sein Überleben bestimmen.
In einer Zusammenschau von mentaler Evolution und Geschichten in China, in Indien und im christlichen Abendland vergleiche ich in Teil 3 dieser Analyse die gemachten historischen Erfahrungen und suche nach Erklärungen. Ein gleiches evolutionäres- oder genetisches Erbe, aber unterschiedlich verlaufende-, sich an unterschiedlichen Leitbildern orientierende Langzeitgeschichten dieser Länder, müssen eine von kulturellen Unterschieden nicht erklärbare-, genetische Ursache haben. Warum entwickeln sich in einer Geschichte Verhaltensformen, die in anderen Geschichten nicht in gleicher Weise zu finden sind? Eine Antwort müsste uns Menschen helfen, in einer globalisierten Welt der Zukunft ein friedlicheres Zusammenleben und eine Bewahrung von Natur erreichen zu können.
Teil 1 MENTALE EVOLUTION ODER WIE MENSCHLICHES VERHALTEN ENTSTEHT.
1A: UNTERSCHEIDUNG, EIN BIOLOGISCHES ERBE.
1. Aus Urknall wird „Ursache und Wirkung“.
Vor ca. 5,6 Milliarden Jahren beginnt die biologische Evolution, beginnt die Evolution biologischer Organismen, beginnt Leben. Wie das Leben entstand dafür haben wir allenfalls Vermutungen. Ist das Leben durch einen Einschlag von Meteoriten auf die Erde gekommen, in der Tiefe der Meere in der Nachbarschaft heißer- und schwefelhaltiger vulkanischer Aktivität oder durch Blitzeinschlag entstanden: Wir wissen es nicht. Was wir jedoch aus der Evolution lernen können sind Erscheinungen, sind Qualitäten und Funktionen, die sie hervorbringt. Das Existieren, das Aufkommen von All und Leben bleiben ein Rätsel. Über die Essenz von All und Leben, über deren Entwicklung, Struktur und Funktion können wir nachdenken und forschen. Lebende Organismen haben eine Struktur. Deren Aufbau braucht Energie, mit der Strukturen und Funktionen entstehen, erhalten und stabilisiert werden müssen. Nicht weniger wichtig sind Information und Wissen, mit welchen ein Organismus über seine körperliche Homöostase und über von außen kommende Einflüsse erfährt. Zwei Funktionen stehen am Anfang einer biologischen Evolution, in welcher das Leben strukturierter Organismen beginnt: Energie und deren Verwertung muss Leben ermöglichen und Information muss das Überleben sichern.
Auch die Biologie arbeitet mit dem ältesten und ersten kosmologischen Gesetz von „Ursache und Wirkung“. Dieses Gesetz entsteht in der Vorstellung heutiger Wissenschaft durch den „Urknall“ vor 13, 7 Milliarden Jahren und schafft mit Masse und Energie zwei äquipotente Qualitäten, die hinfort die Materie, dann die biologische Welt und schließlich auch die menschliche Entwicklung lenken. Das Gesetz wird die Kausalität begründen, welche die materiale- und die biologische Welt lenkt. „Urknall“ ist wissenschaftliche Bezeichnung für einen Anfang, den wir kaum verstehen und noch weniger begreifen können, ist ein Anfang der Welt und des Kosmos, den wir zu beschreiben versuchen, aber nicht erklären können. Durch historische-, biologisch-physikalische- und astronomische Forschung wissend geworden, vergleichen wir physikalische Explosionen im Weltall mit einem „Urknall“ und benutzen ihn als Metapher des Anfangs unserer Welt. Durch beobachtbare physikalische Gesetze sind wir heute in der Lage, eine zeitliche Aussage zum Urknall zu machen. Da wir den „Urknall“ nicht erklären können oder allenfalls Vorstellungen entwickeln, sind wir in einer kaum besseren Situation als jene frühgeschichtlichen Menschen, die in Kosmogonien oder Theogonien das Entstehen der Welt beschreiben. In der Geschichte des Menschen führt dessen Nachdenklichkeit zu magischen Gedanken und Ideen. „Zuerst erklären Mythen oder Religionen dem Menschen die Welt. Sie stellen die gleichen Fragen wie wir heute; inzwischen hat die Wissenschaft diese Rolle übernommen“ schreibt Thomas Sedlarzek 17. Wissen wir zum Anfang unserer Welt heute mehr oder glauben wir nur mehr zu wissen? Ist für uns naturwissenschaftlich gebildete Menschen die Entstehung des Urknalls vor 13,7 Milliarden Jahren besser vorstellbar als das Auftauchen des Gottes Atun aus einem formlosen Chaos für die frühen Ägypter? Auch Urknall ist nur ein modernes Bild, jenen Bildern frühhistorischer Menschen vergleichbar, mit denen sie sich die Entstehung der Welt erklärten. Ausgangspunkt für frühe Kosmogonien ist eine Welt aus „unstrukturierter Masse“, aus „Chaos“, aus „Schattenenergie“, ist eine „präexistene Welt“ oder ein „Ozean der Ursachen“,