Kullmann und das Lehrersterben. Elke Schwab. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elke Schwab
Издательство: Bookwire
Серия: Kullmann-Reihe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750237292
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als aus den Tiefen des Flurs eine Männerstimme rief: »Mirna, wo bleibst du?«

      »Ich komme schon!«

      Mit einem Augenzwinkern verabschiedete sich Mirna von Erik und lief auf die Treppen zu. Wie hypnotisiert starrte Erik ihr hinterher, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er drehte sich zu seiner Wohnungstür um. Sie war zugezogen. Den Schlüssel dazu fand er gerade nicht. Aber das war nicht wichtig. Jetzt musste er die verlorene Zeit aufholen, um rechtzeitig bei seinem Vorgesetzten in Völklingen anzukommen.

      Mit dem Fahrstuhl fuhr er hinunter, eilte auf den Parkplatz und steuerte seinen Wagen an, einen BMW 318i, seine neueste Errungenschaft. Grau metallic blinkte ihm das Auto entgegen, als wollte es ihn begrüßen. Der Wagen war für ihn so etwas wie ein Statussymbol. Im Gegensatz zu seiner Ein-Zimmer-Wohnung gab ihm dieses Auto ein besseres Selbstwertgefühl. Stolz erfüllte ihn, wenn er einstieg und den Duft einsog, das Markenzeichen neuer Autos. Der Motor summte leise, verriet nichts von seinen hundertdreiundvierzig Pferdestärken, die das Auto zur Rakete werden lassen konnten. Mit diesem Hochgefühl steuerte er durch die dicht befahrenen Straßen von Saarbrücken auf die Autobahn zu, die nach Völklingen führte. Wie immer war die A620 verstopft, sodass er sich zügeln und langsam fahren musste.

      Kapitel 4

      »Ein toter Lehrer im Max-Planck-Gymnasium erwartet uns.« So lautete Jürgen Schnurs Begrüßung, als er in den Wagen einstieg. Erik pfiff erstaunt durch die Zähne.

      »Stimmt! So ähnlich habe ich auch reagiert«, meinte Schnur zustimmend. »Mich beschleicht nämlich das Gefühl, dass wir einen äußerst ungünstigen Start in dieser Mordsache hinlegen werden.«

      »Warum?«

      »Weil der Tatort eine Schule ist, wo viele Schüler sind.«

      Sie erreichten Saarlouis. Schnur gab Erik genaue Anweisungen, wie er fahren musste.

      Ihr Ziel war schon deutlich zu erkennen, auch ohne einen Blick auf das Schulgebäude zu erhaschen. Autos standen kreuz und quer über der Pavillonstraße bis zum Merziger Ring und zum Choisyring. Hupen und Schimpfen ertönten. Ein Verkehrspolizist regelte den Verkehr, was bei den aufgebrachten Menschen zum reinsten Spießrutenlauf wurde. Als Erik mit seinem BMW angerollt kam und den Blinker Richtung Schule setzte, wurde der Polizist sofort ungehalten und rief: »Können Sie keine Schilder lesen? Geradeaus. Der Weg zur Schule ist gesperrt.«

      »Wir sind von der Kriminalpolizei und müssen zum Tatort«, erklärte Erik und suchte hastig nach seinem Ausweis in der Hemdtasche.

      »Auf die Schippe nehmen kann ich mich selbst«, entgegnete der Polizist mit einem verächtlichen Blick auf das funkelnagelneue Auto. »Fahren Sie weiter!«

      Jetzt wurde es Schnur zu bunt. Er hielt dem Kollegen seinen Ausweis unter die Nase und brummte: »Ich gebe Ihnen mal eine alte Weisheit mit auf den Weg: Erst glotzen, dann motzen!«

      Der Polizist schaute ganz verdattert auf den Ausweis, änderte sofort seine ablehnende Haltung und ließ die beiden Kriminalbeamten durchfahren.

      Je näher sie dem Tatort kamen, desto lauter hörten sie den Lärm, den die Schüler veranstalteten. Auf den letzten Metern sahen sie erst das ganze Ausmaß des Chaos. Wenige Lehrer mussten sich mit Massen von Schülern im Alter von elf bis zwanzig Jahren herumschlagen. Die Stimmung reichte von ängstlich über weinerlich bis schadenfroh und aggressiv.

      »Sollen wir da wirklich aussteigen?«, fragte Erik.

      Schnur schnaubte freudlos und grummelte: »Ich schätze, wir haben keine andere Wahl.«

      Das Schulgebäude, ein brauner Plattenbau, war von einer Schar von Polizisten abgesperrt worden, damit das Team der Spurensicherung und der Gerichtsmediziner am Tatort arbeiten konnten. Für die Kriminalkommissare hatten die Kollegen vor dem Eingang zum Gebäude eine Gasse freigelegt, die sie nur unter größter Mühe freihalten konnten. Das Gedränge unter den älteren Schülern und den vielen Schaulustigen, die sich dazugesellt hatten, sah bedrohlich aus.

      Erleichtert atmeten Erik Tenes und Jürgen Schnur auf, als sie im Innern des Gebäudes angekommen waren. Kaum fiel die gläserne Tür zu, wurde aus dem ohrenbetäubenden Lärm eine leise Geräuschkulisse.

      Theo Barthels trat auf die Beiden zu und sagte zur Begrüßung: »Hätte ich das gewusst, wäre ich schon Anfang des Jahres in Rente gegangen.«

      Schnur klopfte dem langjährigen Kollegen auf die Schulter und meinte: »Ach was! Du liebst doch die Herausforderung. Nur deshalb wolltest du bis zur letzten Minute bei uns bleiben.«

      Barthels fühlte sich sofort geschmeichelt. Trotzdem wand er sich ein wenig unter dem Lob und erklärte seine Bedenken: »Bevor wir diesen Tatort sichern konnten, haben Hunderte von Schülern ihre Spuren hinterlassen. Das alles auszuwerten geht vermutlich noch über meine Rente hinaus.«

      »Dann zeig uns mal, was du für uns hast«, forderte Schnur auf.

      Sie durchquerten einen schmalen Korridor, der auf eine große, hohe und breite Aula zuführte. Die Farbe Orange dominierte in dem quadratischen Innenhof. Daneben stachen die Farben Grau und Rot ab. Die Stahlträger waren alle in Anthrazit gehalten. Kunstvoll arrangierte Palmen und Gummibäume in allen Größen lockerten das Gesamtbild ein wenig auf. Doch der Anblick des Toten, der in der Mitte von der hohen Decke herunterhing, wirkte schockierend. Das Seil schlang sich um seinen Hals, reichte über eine Querstrebe unterhalb des Glaskuppeldachs und war seitlich an einem der starken Pfosten festgeknotet. Der Unterkörper des Lehrers war nackt; die Hose hing auf den Knöcheln. Die Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Das Gesicht des Toten zeigte deutlich, dass er durch Ersticken gestorben war und nicht durch Genickbruch. Die Augen quollen heraus, ebenso die blau angelaufene Zunge.

      »Der Mann heißt Bertram Andernach und war hier an der Schule Oberstudienrat für die Fächer Deutsch und Politik«, klärte Barthels auf.

      Eine Weile standen alle Polizeibeamten nur da und bestaunten die Zurschaustellung des Toten, bis Schnur sich räusperte und meinte: »Selbstmord können wir wohl ausschließen. Er wird sich wohl kaum selbst wie an einem Flaschenzug in diese Höhe gezogen haben.«

      »Noch dazu mit auf dem Rücken gefesselten Händen und runtergelassenen Hosen«, ergänzte Erik.

      »Hier wurde auf keinen Fall versucht, uns einen Selbstmord aufzutischen.«

      »Wir haben es mit einem Mörder zu tun, der für klare Verhältnisse sorgt«, bemerkte Erik dazu.

      »Dann wollen wir mal zusehen, dass wir das auch schaffen und den Kerl drankriegen«, murrte Schnur. »So viel Kaltschnäuzigkeit verdirbt mir die Laune.«

      »Sollen wir mit der Arbeit beginnen?«, fragte Barthels.

      »Habt ihr schon Polizeifotos gemacht?«, vergewisserte sich Schnur zuerst.

      Die Gesichter, die er als Antwort zu sehen bekam, verstand er nicht.

      »Na ja! Wir habe unsere Fotos gemacht, wie immer«, rückte Barthels endlich mit der Sprache heraus. »Aber von diesem Toten wird es mehr Fotos geben als von Madonna auf Konzertreise.«

      »Hä?«

      »Viele der Schüler haben gefilmt und fotografiert. Der Hausmeister konnte sie nur mit Mühe davon abhalten, die Knoten zu öffnen und den Toten herunterzulassen.«

      »Das hört sich wirklich übel an«, gestand Schnur. »Warum lässt der Hausmeister die Kinder so dicht an den Toten?«

      »Weil die Kinder den Toten vor dem Hausmeister gefunden haben …«

      »Scheiße! Warum muss ich mit meinen schlechten Vorahnungen immer Recht haben?«, schimpfte Schnur und fügte brummend an: »Ich glaube, ich muss den Herrn mal an seine Pflichten erinnern.«

      »Dem geht es nicht so gut.« Barthels lachte. »Die Schüler stecken so einen Anblick besser weg als der Hausmeister. Er sitzt im Bistro auf dem Schulhof. Dort erholt er sich von dem Schreck.«

      Der Hof wimmelte von jungen