Also sah er zu, dass er verschwand.
Der Ausgang kam immer näher. Seine Augen hafteten an der Glastür. Nur noch zehn Meter, neun, acht, sieben, sechs …
Plötzlich wurde es dunkel.
Ein Schatten tauchte vor ihm auf.
Er stoppte, taumelte einige Schritte rückwärts.
Erschrocken schaute er hoch, doch im gleichen Augenblick blendete ihn das grelle Licht einer Taschenlampe. Alles flimmerte vor seinen Augen.
Eine bekannte Stimme schallte ihm hämisch entgegen: »Wie sagst du immer so schön: Du solltest dich mal selbst sehen …«
Darauf folgte ein Lachen, das ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Zu spät bemerkte er die Schlinge, die sich um seinen Hals legte.
Kapitel 1
Fred Recktenwald stand auf und schaute aus dem Fenster. Die Sonne war schon aufgegangen, ein schöner Anblick. Der Sommer war für ihn die schönste Jahreszeit, weil er seinen Weg zur Arbeit bei Tageslicht zurücklegen konnte. Einen Führerschein besaß er schon lange nicht mehr, seit die Polizei ihn betrunken beim Autofahren erwischt hatte. Der Gedanke an einen Idiotentest, oder was man heutzutage alles machen musste, um den Führerschein zurückzubekommen, schreckte ihn einfach ab. Die Angst, das Ergebnis würde am Ende lauten, dass er ein Vollidiot sei, hielt ihn davon ab. Viel zu oft war er in der Schule als Versager beschimpft worden. Diese Demütigungen hatten Spuren in ihm hinterlassen, hatten sein Selbstwertgefühl geschwächt. Lieber verzichtete er auf den Führerschein und ging zu Fuß.
Er zog sich seinen Anzug an, den er immer trug, wenn er zur Arbeit ging. Es war sein Lieblingsanzug, um nicht sagen zu müssen, dass es sein einziger Anzug war. Er war schon aus der Mode gekommen. Aber das störte Fred nicht. Die graue Farbe passte gut zu seinen grauen Haaren. Und die etwas breiteren weißen Streifen betonten seine schlanke Figur.
Er verließ sein Häuschen, das sein ganzer Stolz war. Schon seit Jahren wohnte er in dieser kleinen Behausung, die nur notdürftig eingerichtet war. Ein Telefon gab es hier nicht. Auch kein Kabelfernsehen, weshalb er nur das erste, zweite und dritte Programm über seine alte Antenne auf dem Dach sehen konnte. Dafür lag das Haus ganz versteckt – mitten im Dorf Picard bei Saarlouis. Von keiner Straßenseite aus war es zu sehen. Es duckte sich geschickt zwischen die vielen Bäume und Sträucher, die es umgaben. Das machte für Fred seinen besonderen Reiz aus. Er lebte inmitten der Dorfleute, ohne dass diese etwas davon mitbekamen.
Zufrieden durchquerte er den langen, urwüchsigen Garten, passierte das von Hecken zugewucherte Gartentörchen und gelangte in eine kleine, unüberschaubare Einbuchtung, die ihn zur Dorfstraße führte. So konnte niemand sehen, wo er gerade herkam. Einige Passanten begegneten ihm, die er natürlich höflich grüßte.
Manchmal wollten sie mit ihm plaudern. Aber er schaffte es jedes Mal, sie mit dem sehr überzeugenden Argument abzuwimmeln, er müsse schleunigst zur Arbeit. Er wollte keine Gespräche, wusste nicht, was er ihnen erzählen sollte. Außerdem war es noch nie in seinem Sinne gewesen, über sich selbst zu sprechen. Denn was gäbe es da schon Interessantes zu berichten.
Sein obligatorischer erster Gang führte ihn zum Nachbarhaus zu seiner Linken, wo die Tageszeitung im Zeitungsrohr schon auf ihn wartete. Die zog er heraus, klemmte sie unter seinen Arm und der Arbeitstag konnte beginnen.
Ein langer Marsch stand ihm bevor, denn der Weg zur Teufelsburg war weit. Er überquerte einige Straßen, bis er auf die Felder gelangte, die ihn zu seinem Ziel führten.
So nach und nach erwachte der neue Tag. Greifvögel zogen hoch am Himmel ihre Bahnen, ein Bussard stieß gelegentlich seinen schrillen Ruf aus. Schwalben besiedelten die Stromleitungen und zwitscherten fröhlich. Vereinzelt kamen Rehe aus dem Dickicht, um in der Sonne zu grasen. In der Ferne krähte ein Hahn. Spaziergänger eroberten die Feldwirtschaftswege und führten ihre munteren Hunde Gassi. Fred zog die frische Morgenluft ganz tief ein. Ein Gefühl von Glückseligkeit bemächtigte sich seiner. Selten hatte er diese Zufriedenheit in seinem bisherigen Leben gespürt. Was wohl der Grund für sein Hochgefühl war?
Sein Weg zog sich lang hin. Aber Fred war es gewöhnt, weit zu laufen. Er gelangte in ein kleines Waldstück. Dort lag alles im dunklen Schatten. Ein leiser Wind raschelte durch die Bäume. Der Duft des Waldbodens stieg in seine Nase. Was für ein Lebensgefühl. Er liebte die Gerüche der Natur, liebte es, sich wie ein Teil von ihr zu fühlen. Der lange Marsch tat ihm gut. Dabei konnte er nachdenken. So, wie er jetzt über seinen Arbeitsplatz nachdachte, die Teufelsburg.
Die Ruine war im frühen Mittelalter entdeckt, mehrmals zerstört und wieder aufgebaut worden, bis sie im siebzehnten Jahrhundert dem Zerfall überlassen worden war. Zum Glück für Fred hatten in den Sechzigerjahren einige Interessenten eine Fördergemeinschaft für die Teufelsburg gegründet. Seitdem wurde die Burg restauriert und originalgetreu nachgebaut, was durch Tourismus bezahlt werden sollte. Und Fred war der Touristenführer. Kein Job, der ihm ein Vermögen einbrachte. Dafür ein Job, der ihm das gute Gefühl gab, etwas Sinnvolles aus seinem Leben zu machen. Er kannte die Geschichte dieser Burg in- und auswendig, plapperte sie vielen Schulklassen, die ihre Klassenfahrt dorthin machten, rauf und runter und erfreute sich an den erstaunten Gesichtern der Kinder. Die Kleinen bewunderten ihn für seine Schlauheit, weil er das alles wusste. Eine Bewunderung, die Fred genoss, die ihm das Gefühl gab, kein Versager zu sein. Denn, wenn er sein Leben überdachte, war ihm selten Anerkennung entgegengebracht worden. Im Gegenteil. Schon in der Schule hatte es angefangen. Auch nach seinem überstürzten Schulabgang sollte diese Häme nicht enden. Als ihm die Arbeit als Touristenführer auf der Teufelsburg angeboten worden war, hatte er sich in Sicherheit gewähnt. War der Überzeugung gewesen, dort etwas für sein Selbstwertgefühl tun zu können. Doch dann stand eines Tages sein früherer Deutschlehrer Bertram Andernach vor ihm und beschämte ihn vor der ganzen Schulklasse, die er damals zur Teufelsburg begleitet hatte. Fred wäre am liebsten im Boden versunken. Dabei hatte er diesen unverhofften Besuch sich selbst zu verdanken. Fred hatte den Helden spielen wollen, hatte einen Auftritt in der Schule hingelegt, mit dem er Bertram Andernach beeindrucken wollte. Doch erreicht hatte er nur, dass dieser sich wieder an Fred erinnerte. Sehr zu Freds Leidwesen.
Er hob den Blick und riss sich aus den trüben Gedanken.
Seine Augen erfassten inmitten der üppigen Vegetation sein Ziel. Das alte Mauerwerk der Teufelsburg stach braun zwischen dem saftigen Grün hervor. Sein Weg führte von Südosten auf die Burg zu. Von dort fiel sein Blick auf die äußere Verteidigungsmauer mit ihrem gut erhaltenen Wehrturm. Dahinter verbargen sich die ehemalige Waffenkammer, ein Aufenthaltsraum und Schlafräume. Dazu die ehemaligen Vorratsräume, die heute als Museum dienten – auch ein Teil seiner Arbeitsstätte.
Wenn er über seine Tätigkeit nachdachte, schwoll seine Brust vor Stolz an. Er, Fred Recktenwald, der Museumsdirektor! Das klang beeindruckend. Und nicht nur das: Fred fühlte sich bei dem Gedanken richtig gut, dass er es war, der das Museum führte. Er konnte zu jedem einzelnen Fundstück sämtliche wissenswerte Details aufführen. Darin war er perfekt. Er hatte Zeit genug gehabt, alles auswendig zu lernen. Da war es eigentlich egal, dass er nicht wirklich ein Museumsdirektor war, sondern lediglich eine Aushilfe, die vereinzelten Besuchern Rede und Antwort stand.
Aber heute konnte ihn so schnell nichts mehr aus der Bahn werfen. Heute sah er sich als Museumsdirektor. Wer konnte ihm widersprechen?
Der Deutschlehrer Bertram Andernach jedenfalls nicht mehr.
Seine Schritte wurden immer beschwingter, je näher er der Teufelsburg kam. Der letzte, steile Anstieg konnte ihm an diesem Tag nichts anhaben. Das Bild des Deutschlehrers mit heruntergelassener Hose verlieh ihm Flügel.
Wie hatte der überhebliche Kerl immer gesagt: Du solltest dich mal selbst sehen.
Fred lachte laut auf.
Die Zurschaustellung war