»Bertram Andernach«, plapperte der Schulleiter nach. »Ein guter Mann!«
»Wie lange war Bertram Andernach schon an dieser Schule beschäftigt?«
»War – wie Sie das sagen! Wie Sie das sagen!« Dr. Norbert Franzen schüttelte verständnislos seinen Kopf. »Schon seit dreißig Jahren. Ohne ihn ist diese Schule kaum denkbar, so viel hat er schon geleistet. Und jetzt dieses Ende … – dieses Ende …« Eine pietätvolle Pause entstand.
Schnur spürte, dass der Schulleiter zu zart besaitet war, um ein solches Verbrechen in seinem dienstlichen Umfeld verkraften zu können. Der hagere Mann zappelte unruhig auf seinem Stuhl. Seine blasse Gesichtsfarbe wich einem ungesunden Grau. Um einen Notfall zu vermeiden, ließ Schnur dem Mann etwas Zeit. Als er glaubte, großzügig genug gewesen zu sein, fragte er weiter: »Wer hat einen Schlüssel zu dem Schulgebäude?«
Dr. Franzen überlegte eine Weile, bis er aufzählte: »Der Hausmeister und ich! Der Hausmeister und ich – ja.«
»Und wie ist Bertram Andernach heute Nacht in das Gebäude gelangt?«
Wieder entstand eine Pause. Dieses Mal zerrte sie jedoch an Schnurs Geduld. Vor ihm lag jede Menge Arbeit. Da war es nicht gerade förderlich, auf jede Antwort mehrere Minuten warten zu müssen.
»Er hatte auch einen Schlüssel. Das fällt mir jetzt wieder ein. Er hatte auch einen Schlüssel«, berichtigte Dr. Franzen seine vorherige Aussage. »Die Lehrer, die sozusagen schon zum Inventar dieser Schule gehören, genießen großes Vertrauen – großes Vertrauen. So kam es, dass ich Bertram Andernach einen Schlüssel für die Schule gegeben habe.«
»Und wem noch?«
»Denjenigen, die auch schon lange hier sind – lange hier sind.«
»Können Sie mir sagen, welche Kollegen schon lange hier arbeiten?« Schnurs Beherrschung schwankte. Die Wiederholungen gingen ihm auf die Nerven.
»Nicht mehr viele – nicht mehr viele«, antwortete der Schulleiter. Er wirkte von Frage zu Frage erschöpfter. »Ich könnte sie an einer Hand aufzählen. An einer Hand.«
»Wir brauchen von diesen Lehrern die Personalakten«, stellte Schnur klar.
Dr. Franzen zählte auf, als hätte er Schnurs Anliegen nicht gehört: »Da wären Frau Mathilde Graufuchs, die Geschichtslehrerin, Herr Günter Laug, Mathematik, Herr Manfred Dobler, der Englischlehrer und ich – ja, ja, der Englischlehrer, mein Stellvertreter, Dr. Otto Bellhaus und ich.«
»Und diese Kollegen haben alle einen Schlüssel zum Schulgebäude?«
Dr. Franzen nickte erschöpft.
»Also, wir brauchen die Akten dieser Kollegen, die sie gerade aufgezählt haben«, wiederholte Schnur – dieses Mal etwas eindringlicher. Dr. Franzen wich zurück, als habe er Angst vor dem Kriminalbeamten.
»Wie ist das Arbeitsklima zwischen den Lehrerkollegen?«, funkte Erik dazwischen.
»Sehr gut! Sehr gut!«, kam es im Brustton der Überzeugung.
Umso überzeugter waren die beiden Kriminalbeamten, gerade an diesem Punkt nachhaken zu müssen.
»In welchen Jahrgangsstufen hat Bertram Andernach unterrichtet?«, fragte Erik weiter.
»Er unterrichtet in allen Jahrgangsstufen in den Sekundarstufen I und II. Als Oberstudienrat betreut er die Schüler von Beginn bis Abitur – von Beginn bis Abitur.« Dabei nickte der Schulleiter immer wieder, als wollte er seine Aussage unterstreichen.
»Und wie verstand er sich mit seinen Schülern?«
»Glauben Sie ernsthaft, ein Schüler dieser Schule oder ein Kollege wäre zu dieser grausamen Tat fähig? Glauben Sie das ernsthaft? Zu dieser grausamen Tat?« Endlich erwachte der Schulleiter aus seiner Lethargie. Bisher hatte er den Eindruck hinterlassen, gar nicht zu erkennen, worauf die Fragen der beiden Kriminalbeamten hinausliefen. Doch sein plötzlicher Ausbruch endete so schnell, wie er angefangen hatte. Der hagere Mann sackte in sich zusammen und atmete schwer.
»Wir glauben noch gar nichts«, erklärte Schnur. »Wir müssen erst die Daten und Fakten besorgen, die uns etwas über den Lehrer und seine Tätigkeit sagen.«
»Stimmt!«, lenkte Dr. Franzen ein. »Stimmt! Was brauchen Sie?«
»Die Namen sämtlicher Schüler und Lehrer dieser Schule. Außerdem benötige ich eine Auflistung aller Schüler, die Bertram Andernach unterrichtet hat, und in welchen Fächern. Dazu die Benotungen, seine Bewertungen und sämtliche Korrespondenz, die mit ihm geführt wurde.«
Dr. Norbert Franzens Kopf begann zu wackeln, während er sich Jürgen Schnurs Bitte anhörte, die immer länger wurde.
»Außerdem brauchen wir eine Auflistung von Schülern, die die Schule vorzeitig abgebrochen haben.« Diese Anweisung kam von Erik, der dafür einen anerkennenden Blick von Schnur erhielt. »Und warum sie die Schule abgebrochen haben.«
»Meine Sekretärin wird Ihnen alles zur Verfügung stellen.«
Dr. Norbert Franzen wirkte sichtlich erleichtert, als Schnur und Erik sein Büro verließen.
Sie gelangten auf einen balkonartigen Gang im zweiten Stock, der im Carré führte und von einer Brüstung eingerahmt wurde, die aus grauen Stahlträgern und orangefarbenen Platten bestand. Von dort konnten sie den gesamten Lichthof überblicken. Ein gläserner Fahrstuhl war gegenüber an der Außenseite des Geländers angebaut und ragte in die quadratische Aula hinein. Bunte Tafeln schmückten den großen Vorhof. Gemälde und andere Kunstobjekte prangten mit großen Grünpflanzen um die Wette. Lediglich die Kollegen der Spurensicherung, die mit ihren astronautenähnlichen Anzügen jede Ecke inspizierten, waren Beleg des schweren Verbrechens.
Kapitel 10
Überall, wo er hinsah, waren Schüler – laute, tobende, schreiende Schüler. Die ganze Schule hielt sich auf den Außenplätzen auf. Auf dem Schulhof, dem Weg zu den Sporthallen, dem Sportplatz, überall. Unentschlossen stand er am Rand des Schulhofs und ließ die Bilder der Schüler auf sich einwirken. Dabei kamen Erinnerungen hoch, die er lieber verdrängt hätte. Seine eigene Schulzeit war nämlich keine Zeit, an die er gern zurückdachte. Immer hatte man ihn als Schwächling beschimpft, weil er kleiner und schmächtiger als seine Klassenkameraden war. Auch Sport hatte ihm nie gelegen. Seine Stärke waren die Zahlen, das Rechnen, die unendlichen Möglichkeiten, was er alles damit anstellen konnte. Lange hatte es gedauert, bis irgendein Lehrer sein Talent bemerkte. Von diesem Tag an sollte sich sein Leben entscheidend verändern. Vom Weichei zum Einstein mutiert, fühlte er sich zwar nicht mehr erniedrigt oder beleidigt. Dafür blieb er nach wie vor ein Einzelgänger. Mit einem Schwächling wollte sich niemand abgeben, weil das Schande bedeutet hätte. Und ein Genie wollte auch niemand in seiner Nähe haben, weil dann die eigene Unfähigkeit zu deutlich geworden wäre.
Also war Günter Laug allein geblieben.
Sein bester Freund war schon seit sehr vielen Jahren der Alkohol. Auf den konnte er sich verlassen. Der würde ihn niemals im Stich lassen. Das einzige Problem mit dieser Freundschaft bestand darin, dass niemand davon wissen durfte. Sein Plan, unbemerkt in die Turnhalle zu gelangen, wurde durch die vielen Schüler auf dem Gelände vereitelt. Also gab es für ihn nur eine Lösung, und zwar so offensichtlich auf die hintere Halle zuzusteuern, dass niemand einen Gedanken daran verschwendete, er könnte etwas Verbotenes im Schilde führen. Denn, was hatte ein Mathematiklehrer in einer Turnhalle zu suchen?
Verstohlen schaute er sich um und begegnete dem Blick des Englischlehrers Manfred Dobler. Dieser Besserwisser hatte ihm gerade noch gefehlt. Jetzt musste er sich erst einmal eine Stunde lang Doblers Glanzleistungen anhören, bevor er seinen Plan umsetzen konnte.
»Hast du das gesehen? Hammer! Was?« Die Augen des kleinen Mannes leuchteten mit seiner Glatze um die Wette.
Laug verdrehte die Augen und murrte: »Kannst du dich nicht