„Nummer 82, vortreten.“
Das war Zhuowus Nummer. Er zwängte sich durch die Menge zum Tor. Die Angestellten dort überprüften die Nummer, dann durfte er das weite Prüfungsgelände betreten. Neugierig sah er sich um. Vor ihm erstreckten sich lange Reihen mit hunderten von kleinen weißgetünchten Einzelzellen. Das ganze Areal war von einer hohen Mauer mit Wachtürmen umgeben. Überall standen Wächter, auf den Türmen und auf den Wegen zwischen den Zellen. Sie würden die Prüflinge bei Tag und bei Nacht überwachen.
„Zeigt Eure Nummer“, wurde er von einem der Wächter aufgefordert.
Zhuowu reichte ihm wortlos den Zettel und wurde von ihm zu seiner Prüfungszelle geleitet.
„Macht es Euch gemütlich. Das wird für die nächsten Tage Euer ‚behagliches Heim‘ sein“, spöttelte der Wächter gutmütig.
Der Mann hat Humor, dachte Zhuowu. Dann musterte er sein „behagliches Heim“. Eine ungefähr einen Meter breite und vorne offene Zelle mit einem Vorhang, der in der Nacht zugezogen werden durfte. Die Inneneinrichtung bestand aus zwei Brettern, die sich über die gesamte Breite der Zelle erstreckten: ein schmales, direkt an der Hinterwand angebracht, auf das er sich setzen konnte, und ein breiteres, das etwas höher befestigt war und das ihm als Schreibtisch dienen würde. Nachdem er alles ausgepackt und die Schreibutensilien auf dem Tisch ausgebreitet hatte, kletterte er unter dem Schreibtisch durch und nahm auf dem schmalen harten Brett Platz. Wieder musste er warten. Er spürte, wie ihn Müdigkeit überkam und schlief, den Kopf auf dem Schreibtischbrett, ein. Plötzlich erschütterte ein mächtiger Gongschlag das Gelände, der ihn abrupt aufweckte. Eine laute hohe Stimme hob an.
„Prüflinge, haltet euch bereit. Ihr erhaltet nun die Prüfungsaufgaben und die amtlich abgestempelten Schreibbögen. Ihr dürft mit der Arbeit erst anfangen, wenn ihr dazu aufgefordert werdet. Die Wächter achten streng darauf, dass niemand gegen die Regeln verstößt.“
Nachdem die Unterlagen von Angestellten an alle Kandidaten verteilt worden waren, wurde dreimal der Gong geschlagen. Erneut war die Stimme zu hören.
„Prüflinge, im Namen unseres Erhabenen Kaisers, des Himmelsohns, der alles unter dem Himmel beherrscht, die Provinzprüfung von Fujian beginnt. Mögen euch die Glücksgötter und der Gott der Gelehrsamkeit wohlgesonnen sein.“
Ich verlass mich lieber auf mich selbst und mache mich nicht zum Sklaven von Glücksgöttern, dachte Zhuowu lächelnd. Inzwischen war es später Nachmittag geworden. Die Sonne, die den nach Süden ausgerichteten Prüfungszellen direkt gegenüberstand, senkte sich langsam Richtung Horizont und war schon fast hinter den hohen Bäumen jenseits der Mauern des Prüfungsgeländes verschwunden. Zhuowu öffnete den Umschlag mit den Aufgaben und las sie sorgfältig durch. Er nahm sich vor, mit dem Achtgliedrigen Aufsatz zu beginnen, dem schwierigsten Teil der Prüfung. Das Thema war einem Abschnitt aus den konfuzianischen Klassikern entnommen, den er bestens kannte. Er überlegte kurz und begann zu schreiben. Er wusste genau, was die Prüfer hierzu hören wollten, und kam zügig voran. Als sich die Dunkelheit über das Gelände senkte, zündete er eine Kerze an und beschloss einige Zeit später, die Arbeit für heute zu beenden. Er aß eine Kleinigkeit und versuchte zu schlafen. Doch es war schwierig, auf dem harten Sitz und mit dem Kopf auf dem Schreibtischbrett eine einigermaßen bequeme Position zum Schlafen zu finden. Von Zeit zu Zeit kam zur Kontrolle ein Wächter vorbei und leuchtete mit einer Fackel in die Zelle. Um Mitternacht wurde es kühl. Zhuowu wickelte sich noch fester in seine Decke und fiel, müde wie er inzwischen war, endlich in einen bis zum Morgengrauen dauernden Schlaf.
Nach dem Aufwachen nahm er ein paar Bissen zu sich und machte sich wieder an die Arbeit. Bis zum Abend hatte er den Achtgliedrigen Aufsatz beendet. Er las ihn noch einmal sorgfältig durch und legte zufrieden die Bögen zu Seite. Er hatte sich bei seinen Argumenten vollständig auf die Kommentare des Philosophen Zhu Xi berufen. Zhu Xi war die Autorität. Nicht, dass Zhuowu besonders von ihm überzeugt war, im Gegenteil, aber er wusste, dass er nur auf diese Weise die Prüfung bestehen konnte. Am Vormittag des dritten Tages bearbeitete er noch die restlichen Aufgaben. Sie machten ihm keine Mühen. Mit Beginn des Nachmittags wartete er darauf, dass das Ende der Prüfung verkündet wurde. Endlich gegen Abend wurde der Gong dreimal geschlagen und der unsichtbare Rufer ließ wieder seine Stimme ertönen.
„Prüflinge, die Prüfung ist beendet. Legt die Pinsel zur Seite. Nicht ein Wort darf mehr geschrieben werden.“
Die Angestellten des Prüfungsamtes gingen durch die Reihen, von Zelle zu Zelle und sammelten die Prüfungsbögen ein, die sie zur Identifizierung mit der jeweiligen Zellennummer versahen. Noch einmal wurde der Gong geschlagen und zum letzten Mal war die Stimme des unsichtbaren Rufers zu hören.
„Prüflinge, begebt euch an die Sammelpunkte eurer Zellenreihe und folgt den dort wartenden Angestellten. Bewahrt Ordnung und seit diszipliniert. Es ist weiterhin verboten miteinander zu sprechen.“
Zhuowu atmete auf, kroch unter dem Schreibtisch durch, packte seine Sachen zusammen und ging zu seinem Sammelpunkt. Viele der Umstehenden machten einen abgekämpften Eindruck. Er blickte in blasse und erschöpfte Gesichter. Ob ich auch so aussehe? fragte er sich. Er dachte an Anning. Wie er die Prüfung wohl überstanden hat? Während sich seine Gruppe in Bewegung setzte, hielt er nach ihm Ausschau, konnte ihn aber nicht in der Menge entdecken. Vor dem Tor des Prüfungsamtes zerstreuten sich die Kandidaten in alle Richtungen. Jetzt hieß es warten. In drei Tagen würden die Ergebnisse vorliegen und auf Listen an der Mauer des Prüfungsamtes bekanntgegeben.
Zhuowu kehrte in sein Gasthaus zurück. Der Wirt blickte ihn neugierig an.
„Na, du siehst nicht so geschafft aus, wie dein Kollege“, sagte er lachend.
„Er ist schon hier?“
„Vor kurzem angekommen und gleich auf sein Zimmer verschwunden. Er hat mir noch aufgetragen, dass er heute nicht mehr gestört werden möchte. Selbst essen wollte er nicht.“
Zhuowu aber war hungrig und bestellte sich ein einfaches Abendessen, Reis mit Gemüse, und leerte mehrere Becher Wein dazu. Er war guter Dinge und voller Zuversicht, und mit jedem Becher Wein fühlte er sich entspannter. Die nächsten Tage wollte er sich die Zeit damit verkürzen, Sehenswürdigkeiten der Provinzhauptstadt aufzusuchen. Vor allem der östlich der Stadt am Ufer des Min-Flusses gelegene Trommelberg mit seinen Tempeln interessierte ihn. Er nahm sich vor, am nächsten Tag dorthin zu wandern und vielleicht in einem der Tempel zu übernachten.
Der Trommelberg
鼓山
Am nächsten Morgen fühlte Zhuowu sich frisch und ausgeruht. An die Prüfung verschwendete er keinen Gedanken mehr. Er hatte gehofft, Anning beim Frühstück zu begegnen, ihn aber nicht im Speiseraum angetroffen. In seinem Zimmer war er auch nicht.
„Der ist schon früh losgezogen, brauchte wohl frische Luft. Jedenfalls sah er heute Morgen nicht besser aus, eher noch schlechter“, erklärte ihm der Wirt.
Zhuowu wollte Anning eigentlich fragen, ob er ihn zum Trommelberg begleiten wollte. Schließlich ging er, nachdem ihm der Wirt den Weg dorthin erklärt hatte, alleine los. Auf sein dunkelblaues Gewand hatte er heute verzichtet und ein graues angezogen, das er zum Wechseln dabei hatte. Er wollte nicht als Akademiker erkannt werden. Außerdem war das graue