Tod eines Agenten. Lars Gelting. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Gelting
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753189055
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dann konnte er ihr nicht mehr ausweichen.

      Kathrin hatte Rudi gebeten, bei der „Tafel“ ein Regal zu reparieren, wodurch beide von einem Moment zum anderen aus dem Haus waren. Damit war er Helga ausgeliefert, und er tischte ihr mit Unbehagen seine Ausrede auf. Er erzählte ihr, dass er eine größere Investition plane, von der Kathrin aber besser nichts erfahren sollte. Es würde sie nur beunruhigen, und sie würde sich wieder Sorgen machen. Aber er habe Rudi um Rat gefragt. So, wie er es immer gemacht habe.

      Helga sah ihn einen Atemzug lang fest an. Schweigend. Alle Sanftheit war aus ihrem Gesicht gewichen. Die weiße Haarsträhne hing ihr wieder im Gesicht. Sie wirkte verletzt.

      Sie stützte sich auf dem Tisch ab, drückte sich langsam vom Stuhl hoch, nahm seine Tasse und wandte sich zur Spüle.

      „Du magst sicher keinen Kaffee mehr.“

      Am Nachmittag verließ er Greifswald mit dem Gefühl, die Menschen verletzt zu haben, die ihm am nächsten standen.

      Er fuhr zurück, Richtung Kiel, nicht nach Hamburg.

      Kapitel 8

      Kiel, Mittwoch, 28. September, 21.30 Uhr.

      Es kam Wind auf, der kühl vom Meer hereinblies.

      Dr. Robert Snelting, angesehener Neurologe und Psychiater, befand sich um diese Zeit im Lesezimmer seines Hauses, einem länglichen Raum mit Parkettfußboden, einem dicken Teppich und Bücherregalen aus Kirschholz an den Wänden. Im hinteren Bereich des Raumes, nahe bei den großen Fenstern, bildeten ein Lesesessel aus braunem Leder und ein kleiner Tisch eine einladende Leseinsel. Eine ebensolche Leseinsel befand sich im vorderen Teil des Raumes, in Reichweite einer modernen Audioanlage.

      Robert Snelting nutzte diesen Raum eher selten. War er nicht in der Klinik, so folgte er gesellschaftlichen oder beruflichen Verpflichtungen außerhalb seines Hauses. Den größten Teil der etwa zweitausend Bücher, die sich in den Regalen befanden, hatte er sich beim Bezug dieses Hauses von einem Buchhändler liefern lassen. Allenfalls ein halbes Dutzend davon hatte er selbst gelesen. Dennoch hatte dieser Raum eine ganz besondere Bedeutung für ihn. Er war so etwas wie eine Höhle, in die sich der Dreiundsechzigjährige einmal in der Woche, und zwar immer mittwochs, zurückzog. An diesen Abenden war er unerreichbar für jeden.

      Auch diesen Mittwochabend genoss er alleine in seinem Ledersessel, mit einem guten Rotwein und anspruchsvoller Musik.

      Wie immer, auch im Sommer, waren die Fenster abgedunkelt, auf einem massiven Messingständer brannte eine armdicke Kerze, und das „Kyrie“ aus dem Requiem von Mozart erfüllte jeden Winkel des Raumes.

      Für ihn hatten diese Abende einen geradezu sakralen Charakter. In einer Welt, die er sich selbst geschaffen hatte, war er dann ganz bei sich. Eine Störung gestattete er niemandem.

      Das „Kyrie“ war gerade verklungen, und Robert Snelting wartete mit geschlossenen Augen auf den furiosen Beginn des „Dies irae, dies illa“, als sich aus dem Dunkeln heraus etwas rasch über ihn senkte. Er spürte die Veränderung, fuhr hoch, wurde aber im gleichen Augenblick grob und unnachgiebig in seinen Sessel gepresst. Ein Gurt straffte sich unterhalb seines Brustbeins, zwang ihn an seinen Sessel, machte ihn wehrlos, und mit dem Beginn des „Dies irae“ schrie er sein Erschrecken, seine Angst heraus.

      Ein Überfall! Er war alleine im Haus. Der Gedanke füllte seinen Kopf, verdrängte alles andere. Im nächsten Augenblick ruckte er wild in seinem Sessel herum, versuchte den Gurt zu lösen und spürte, wie dieser sich noch fester um seinen Körper straffte. Er war ausgeliefert.

      „Was soll das? Verdammt nochmal, was soll das? Was wollen Sie?“

      Er schrie sein Entsetzen heraus, wandte den Kopf panisch hin und her, versuchte den Eindringling zu erkennen. Vergeblich.

      Seine Fragen blieben ohne Antwort. Verzweifelt ruckte und riss er an der Fessel, versuchte seine Arme unter dem Gurt hervorzuziehen, stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Ohne nennenswerten Erfolg. Die Arme wurden von den Seitenwangen des Sessels an seinen Körper gepresst, er konnte sie nur wenig drehen und nach oben ziehen.

      Seine Gedanken schoben sich im Kopf übereinander, hastig, fieberhaft, während er weiterhin seine Arme drehte. Es war mal Teil seines Berufes gewesen, Gewalttäter durch Gespräche von ihren Vorhaben abzubringen. Er suchte nach einer Möglichkeit, einem Gesprächsanfang.

      Die Angst war stärker. Er war alleine im Haus, es würde niemand kommen. Er war ausgeliefert. Geld. Die wollten ja nicht ihn, die wollten Geld, Werte.

      „Hören Sie. Ich habe Geld. Nehmen Sie das Geld!“

      Er horchte, geradezu verzweifelt. Hoffte im Strom der Musik eine Antwort zu erkennen.

      „Verdammt nochmal, sagen Sie etwas. Wenn Sie Geld wollen, ich habe genug im Haus. Und wenn Sie noch etwas anderes wollen, dann nehmen Sie sich das. Nehmen Sie sich, was Sie wollen, aber lösen Sie endlich den Gurt.“

      Nur das „Dies irae, dies illa“ erfüllte mächtig den Raum.

      Es musste doch etwas geschehen. Sein Blick hetzte herum, blieb kurz an der brennenden Kerze hängen. Die waren hinter ihm, und die bewegten sich nicht. Die rissen keine Schubladen aus den Schränken, wühlten nicht herum. Er hörte nichts.

      Plötzlich war er sich sicher: Die hatten es auf ihn abgesehen. Auf sein Geld vielleicht auch, aber zuerst ging es um ihn. Ein Patient!

      Für einen Augenblick saß er ganz still, versuchte mit äußerster Konzentration irgendetwas zu hören, zu erkennen. Aber lediglich das „Dies irae“ umtoste ihn. Er hielt das nicht aus.

      „Jetzt reden Sie! Sagen Sie etwas! Was wollen sie?“ Er schrie jetzt, schrie endlich mit sich überschlagender Stimme. Schrie in die Stille hinein – als das Requiem abrupt aussetzte.

      Er bog den Kopf weit in den Nacken, sah dorthin, wo er den Eindringling vermutete. Vergebens. Er wandte den Kopf panisch hin und her, bis sich der Bügel seiner Brille vom linken Ohr löste. Die Brille hing ihm quer über das Gesicht. Er hielt inne, einen winzigen Augenblick, schleuderte sie dann mit einer einzigen, wilden Bewegung ins Dunkle und wartete darauf, dass etwas geschah.

      „Wir wollen dich, Stocher, nur dich. Es ist nicht dein Geld, was uns interessiert, Dr. Werner Stocher. Dein Geld ist uns vollkommen gleichgültig. Du selbst bist das Ziel, Dr. Werner Stocher.“

      Die Stimme war hinter seinem Sessel. Ganz nah. Er spürte, dass er zitterte und verlor wieder die Kontrolle.

      „Ich bin kein Ziel! Für niemanden. Sie reden Unsinn. Hören Sie auf!“ Das Letzte schrie er schon wieder, beugte dann langsam den Oberkörper vor, als habe er Schmerzen: „Ich bin Dr. Robert Snelting. Ich heiße nicht Stocher, und ich kenne keinen Stocher.“

      „Das musst du wohl sagen. Aber gib dir keine Mühe. Wer dich kennengelernt hat, Dr. Werner Stocher, den kannst du nicht täuschen. Der wird dich immer erkennen. Und wir beiden, du und ich, wir hatten jeden Tag miteinander zu tun. Ich würde dich auch noch im Dunkeln erkennen.“

      Die Stimme war direkt hinter und über seiner Sessellehne. Er suchte in seiner Erinnerung, die Stimme kannte er nicht. Er zitterte jetzt am ganzen Körper.

      „Sie sind krank. Irre! Sie faseln dummes Zeugs“.

      Abrupt hielt er inne.

      „Wer sind Sie? Kommen Sie endlich vor und beenden Sie dieses alberne Theater.“

      „Du irrst, Stocher. Das hier ist kein Theater, und albern ist das schon gar nicht.“

      „Natürlich ist das albern! Hören Sie endlich auf mit diesem Unsinn! Ich will …“

      Sein Schreien wurde jäh und stark unterbrochen.

      „Schweig jetzt! Schweig! Was du hier erlebst, ist nicht weniger als der Beginn deines allmählichen Untergangs, Stocher. Wir wollen nicht dein Geld und nicht dein Leben, aber wir werden das Leben, in dem du jetzt so komfortabel lebst, zerstören.“