Er wischte einen Zahnpasta-Klecks, der ihm aus dem Mund gefallen war, vom Wasserkran, sah wieder auf – und erstarrte. Einen Augenblick lang stand er ganz still, hielt die Zahnbürste im Mund, blickte in den Spiegel vor sich, senkte dann die Hand mit der Zahnbürste auf den Waschtisch.
„Wir sind dir ganz nah. Immer!“
Die Worte waren mit einem dicken, blauen Edding auf den Spiegel geschrieben worden. Das war schlimm genug: Der Kerl war in seinen Lebensbereich eingedrungen, war durch seine Wohnung gelaufen, während er schlief. Was ihn aber entsetzte und jäh seine Panik entfachte, war die Tatsache, dass diese Worte in der Nacht noch nicht dort gestanden hatten.
Irgendwann in der Nacht hatte er eine Brause-Aspirin genommen und hatte in den Spiegel geschaut, während er das Glas austrank. Im Spiegel hatte er nur sein Gesicht mit den dunklen Schatten unter den Augen gesehen. Nichts anderes!
Der war noch immer im Haus! Es war noch nicht vorbei!
Er ließ die Zahnbürste im Waschbecken liegen, spuckte den Zahnpasta-Schaum aus, hastete zurück ins Schlafzimmer und nahm die „Glock“ aus der Schublade.
Es war die pure Verzweiflung, die ihn jetzt antrieb, die ihm die Luft zum Atmen nahm, Verzweiflung und eine unbändige Wut. Nur mit seiner Pyjamahose bekleidet, den Zahnpasta-Schaum noch im Gesicht und die entsicherte Pistole in der Hand hetzte er von Raum zu Raum.
Wie am Abend zuvor durchsuchte er jeden Winkel des Hauses, stand endlich schwer atmend im Abstellraum und blickte durch ein geöffnetes Fenster in den blauen Himmel.
Sie spielten ihr Spiel mit ihm!
Er hatte das Fenster am Abend geschlossen, den Tisch an seinen eigentlichen Platz zurück geschoben. Alles hatte wieder seine gewohnte Ordnung gehabt.
Jetzt stand der Tisch unter einem anderen, dem mittleren der drei Fenster, das Fenster selbst stand weit auf.
Für einen langen Augenblick starrte er auf die Fensteröffnung. Sein Körper bebte unter dem Gefühl der Machtlosigkeit, der Furcht, aber auch des Zornes. Er wünschte sich, jetzt, in diesem Moment, würde ein Kopf in der Fensteröffnung auftauchen.
Um dreizehn Uhr traf er sich mit Helmut im Restaurant „Zum Mühlbach“.
Das Lokal lag gut erreichbar wenige Kilometer vor Hamburg, in der Nähe gab es einen Golfplatz. Eine ausgezeichnete Küche und die Möglichkeit, das bestellte Gericht in einem separaten Raum einzunehmen, machten dieses Lokal zu einem idealen Treffpunkt.
Helmut erwartete ihn auf dem Parkplatz. Einem kreisrunden Platz, der von Bäumen und dichtem Buschwerk umgeben war, als befände er sich in einem Wald. Er hatte seinen Wagen in einer Nische hinter Büschen geparkt. Von der Straße aus war dieser Bereich nicht einsehbar.
In seinem tiefsten Inneren mochte er Helmut nicht. Helmut war gut einen Kopf größer als er selbst, wirkte immer ziemlich grobschlächtig auf ihn, und er war noch fülliger geworden. Wie schon bei ihrem letzten Treffen trug Helmut einen Anzug in dunklem Anthrazit, dazu ein blaues Hemd mit rostbrauner Krawatte. Das Jackett trug er offen.
Er mochte dieses Grobschlächtige, Proletenhafte nicht, diese Art, wie Helmut jetzt mit großen, gewichtigen Schritten auf ihn zukam und ihm seine fleischige Hand entgegenstreckte. Aber Helmut war und blieb „Helmut“, und es wäre sehr unklug, ihm nicht mit dem erwarteten Respekt zu begegnen. Sein grobes Äußeres und sein derbes Auftreten täuschten schon immer darüber hinweg, dass Helmut ziemlich scharfsinnig und skrupellos gerissen war. Übergewichtig war er erst in den letzten Jahren geworden.
„Mein Lieber, du siehst ja aus, als wärest du ein paar Tage lang versackt.“ Helmut stand jetzt vor ihm und betrachtete ihn mit seinem Internisten-Blick. Er nickte mit dem Kopf zum Lokal hinüber. „Komm, lass uns erst einmal was Vernünftiges essen. Danach knacken wir die Nuss. Ich muss erst um sechzehn Uhr wieder in der Praxis sein. Wir haben also Zeit.“
Während des Essens sprachen sie nicht über das anstehende Problem. Die Abwesenheit der Frauen, die eine war zur Elchjagd in Schweden, die andere weilte zur Entspannung auf Sylt, war das Thema, mit dem sie ihr Gespräch eröffneten. Sie waren sich einig, dass solch eine zeitweilige Abwesenheit durchaus auch ihre Vorteile hatte.
Ein weitaus wichtigeres Thema waren die zwei Kongresse, zu denen sie als Ärzte eingeladen waren und an denen sie auch teilnehmen würden. Der erste Kongress fand Anfang November in Hamburg statt, und Helmut war an den Vorbereitungen beteiligt.
Für den zweiten Kongress mussten sie nach Zürich fliegen. Die Erfahrung ließ drei interessante und sehr unterhaltsame Tage erwarten.
Nach dem Essen bestellten sie noch einen Kaffee.
Helmut lehnte sich weit auf seinem Stuhl zurück, legte seine großen Hände übereinander auf den Tisch und wartete, bis die Bedienung den Raum verlassen hatte.
„So, erzähl mal: Du bist überfallen und beraubt worden?“
„Keineswegs. Ich bin nicht beraubt worden. Meine Geldbörse, mein Smartphone, Papiere, alles lag frei herum. Es fehlt nichts. Und das ist für mich das eigentlich Bedrohliche: Die Kerle meinen es ernst. Die haben offensichtlich meine Identität ausgegraben. Sie drohen damit, mich bzw. meine Existenz zu vernichten.“
„Die haben in dir also den alten Stocher erkannt. Und jetzt wollen sie dich damit erpressen. Das hatten wir schon ein paar Mal.“
„Das Ziel ist Rache. Ausschließlich Rache, für was auch immer. Für mein Geld interessieren sich diese Typen ausdrücklich nicht. „Wir werden deine Existenz nach und nach zerstören, bis kein Hund mehr einen Knochen von dir nimmt.“ Es klingt mir noch in den Ohren. Hier geht es nur um Rache. Und die meinen es ernst.“
„Das hört sich in der Tat so an. Aber was können die schon machen. Deine Papiere waren und sind absolut sauber. Du siehst halt jemandem ähnlich, aber du bist es nicht. Fertig. Rechtlich werden die dich nicht mehr belangen können.“ Er veränderte seine Haltung, nahm die linke Hand zurück auf die Stuhllehne, war jetzt konzentriert.
„Aber man weiß ja: Wenn man mit Dreck beworfen wird, bleibt auch immer was hängen. Und das ist ja auch nicht schön. Ich denke, wir sollten diese Drohung ernst nehmen. Du hast niemanden erkannt, auch die Stimme nicht?“
„Die einzige brauchbare Information war, dass sie ihre Rache aus meiner Tätigkeit in Waldheim ableiten und dass ich tagtäglich mit ihnen zu tun hatte. Wörtlich: Wir hatten jeden Tag miteinander zu tun.“
Helmut zog zufrieden die Mundwinkel nach unten, nickte einmal mit dem Kopf.
„Da hat er einen dummen Fehler gemacht. Das ist doch was. Der Kreis dürfte ja nicht allzu groß sein.“
„Mitarbeiter und Patienten. Das kann aus beiden Lagern kommen.“
„Könnte Ulrike dahinter stecken? Keiner kennt dich besser als Ulrike.“
„Ulrike.“ Stocher blickte ihn einen Augenblick lang nachdenklich an, sah mit verengten Augen an Helmut vorbei zum Fenster und kam wieder zurück. „Nein. Wohl kaum. Ulrike würde sich damit selber schaden. Außerdem ist sie nicht der Typ für hinterhältige Aktionen. Ulrike geht immer den geraden Weg. Nein, Ulrike nicht.“
„Kenn mir einer die Frauen. Irgendjemand hat mal den Spruch kreiert: Die Hölle kennt nicht solch einen Zorn wie ein verschmähtes Weib. Bei deinen erotischen Aktivitäten kann schon mal was aus dem Ruder laufen.“
„Nein, ich glaube nicht. Sie wird selber nur zu gut wissen, dass so etwas sehr ungesund für sie wäre.“
„In der Tat. Also: Ich schlage vor, du denkst mal über deinen täglichen Umgang in Waldheim nach. Sende mir das Ergebnis möglichst umgehend zu. Ich werde mal unsere Freunde in Waldheim aktivieren, die werden Augen und Ohren offenhalten. Vielleicht sollte ich dir Alex rüberschicken. Der könnte ein Auge auf dich haben, falls die Kerle nochmal bei