Hubertus prahlte oft mit seinem zurückliegenden Leben im Bauwagen, es sei oft recht lustig und ausgelassen zugegangen, sie hätten diesen Frohsinn und die Ungehemmtheit mit einer beträchtlichen Zahl Frauen geteilt. In den Frauen sah er ein Spielobjekt. Er hatte eine sehr gute Meinung von sich selbst, er war ein ausgeprägter Narzisst und sein wundervolles Ich wollte er mit vielen Frauen teilen. Er brauchte die Frauen, um sein männliches Über-Ich, sein aufgeblähtes Selbstwertgefühl zu bestätigen und so sein Image zu pflegen. Hierfür kam ihm eine langhaarige Brünette mit Modelfigur, die wie eine Klette an ihm zu hängen schien, sehr entgegen. Bei ihr traf die Feststellung Virginia Woolfs voll zu, dass die ‚zornigen Männer…die Frau nur als Spiegel brauchen, in dem der Mann in mythischer doppelter Größe widergespiegelt wird und seine Bestätigung erfährt‘. Ihr gegenüber konnte Hubertus Macht ausüben und Anerkennung erhalten.
Um aber seine übersteigerten Größenfantasien ausleben zu können, benötigte er permanent One-night-Stands mit anderen weiblichen Körpern. Gegen ein Entgelt für einen Kneipenbesuch ersuchte er häufig Ulrich, ihm die Bude zu überlassen.
Ulrich, im Wesen zurückhaltend, in sexuellen Fragen unerfahren und unsicher, widerstrebte diese Haltung. Also weihte er die Langhaarige ein:
„Du weißt schon, dass Hubertus häufig Frischfleisch braucht.“
Sie schaute Ulrich fragend an, als hätte er über ein saftiges Steak gesprochen. Also musste er etwas nachhelfen. Sie zog ihre Konsequenzen.
Hubertus wertete dies als Verrat seitens Ulrichs. Er meinte danach nur, dass Ulrich seine Aktion hätte ihm ankündigen können. Ihm wäre dann eine Bergpredigt erspart geblieben und er hätte vorher handeln können.
Während Ulrich den Stoff für die naturwissenschaftlichen Fächer mit Begeisterung und Freude lernte, fiel ihm das Lesen in den Fremdsprachen und das Verstehen deutlich schwerer. Die russischen Wörter musste er oft Buchstaben für Buchstaben erschließen, ehe sie halbwegs flüssig über seine Zunge gingen. Im Fach Englisch hatte er sich für eine Vokabelarbeit einen Spickzettel angefertigt. Aber die findige Lektorin spürte den Betrug auf. Ulrich war eben nicht geschickt genug und ungeübt. Es gab eine Klassenkonferenz, in der er sein Fehlverhalten zu erläutern hatte. Sein Handeln wurde mit der ehrlichen Arbeit der Arbeiter in der Produktion verglichen und als nicht deckungsgleich befunden. Redliches Arbeiten sei nun mal eine Grundeigenschaft der Arbeiterklasse.
Anderseits wiesen ihn die Kommilitonen wohlwollend auf sein thüringisches Deutsch mit den eigentümlichen Wortkombinationen und dem eigenwilligen Gebrauch der Fälle hin. Wenn er im Wohnheim davon sprach, dass er wieder einmal seine Fußzehnnägel schneiden müsse, rief es Gelächter hervor.
Ulrich hatte gewissermaßen kein Elternhaus, das ihn hätte in seiner Entwicklung positiv beeinflussen können. Ihm wurde keine Bildung und kein höherer sozialer Status vererbt. Die Lebensumstände seiner Eltern waren kein Vorbild. Er wurde nicht an Kunst, an Literatur, an Musik herangeführt. Hier in der Vorstudienanstalt sollten die Arbeiter und Bauern in einem zusätzlichen fakultativen Kurs Einblicke in die Stilepochen der Kunst, der Musik, der Malerei erhalten und selbst gestalterisch aktiv werden. Diese Lehrveranstaltung sollte beitragen, die kulturell-geistigen Eigenschaften der neuen Persönlichkeit zu fördern. Er erfuhr, wer die Mona Lisa malte, worin sich Romanik und Gotik unterschieden, welche Vertreter dem Impressionismus zugeordnet wurden. Ihm wurden Fragen der Malerei, der Grafik, der Architektur, der Musik beantwortet. Er erhielt im Schnelldurchgang Kenntnis über die Auffassungen Aristoteles zur Kunst ebenso wie über die Gründung des Blauen Reiters durch Marc und Kandinsky. Ihm wurde nahegebracht, wie sich die Hoffnungen, Wünsche, Sehnsüchte, Ahnungen der Menschen in den künstlerischen Produkten widerspiegelten und den erreichten gesellschaftlichen Zuständen entsprachen, so wie es eben Marx gesehen habe. Die marxistisch-philosophischen Gedanken, dass die Kunst die höchste Erscheinungsform der menschlichen Produktivität sei, wurden im Lehrgang eingebettet.
Aber auch das schöpferisch-manuelle Geschick wurde gefördert. Er fertigte Gipsschnitte und skizzierte mit Kohlestiften.
Erstmalig nahm er bewusst Orchestermusik in sich auf. Nachmittags fanden sich dann interessierte Kommilitonen im Studio zusammen, sie wollten für sich das umsetzen, was sie mittags in der Übungseinheit gelernt hatten. Früher habe sich jeder Hof, jeder Fürst, jeder Bischof seine individuellen musizierenden Instrumentalisten gehalten und die Werke der jeweiligen Hofcompositeure in der Kammer gespielt. Nun wollten sie auch ihr eigenes Konzert. Also hörten sie bei kräftiger Lautstärke die Sinfonien Beethovens, Schuberts, Tschaikowskis, so dass der Hausmeister kam und Drosselung forderte. Ulrich erhielt im Kursus Einblicke in die Kunst der orchestralen Farbmischungen zwischen den Instrumenten, von Mozart bis Richard Strauss. Anfangs beeindruckten ihn die starken Kontraste, später schätzte er aber auch die Ausgewogenheit. Um den Klangreiz verstehen zu können, musste sein Vorstellungsvermögen angesprochen werden. Bei den Klängen von Smetanas Moldau konnte er im Geist das Plätschern des Wassers über die Steine in den Tälern des Böhmerwaldes förmlich sehen. Es dauerte lange, bis er etwas abstrahieren konnte und die Klavierkonzerte Chopins tief in seine Gefühlswelt eindrangen. Mit Chormusik hat er sich nie anfreunden können, das gesungene Wort, die Oper, erschloss er sich erst als gestandener Mann.
Diese ihm nahegebrachte Aufgeschlossenheit gegenüber der Kunst, das Kunstverständnis fasste tief Fuß im Inneren Thalheims.
Im Fach Geschichte wurde wie auf der Pferderennbahn in Dresden-Reick im Galopp durch den Entwicklungsprozess der menschlichen Gesellschaft gerast. Nach einem kurzen Trip durch die Steinzeit wurden die antiken Schauplätze der Griechen beschnuppert, Athen, Sparta, Troja und die Erfindung der Demokratie spielten eine Rolle. Kurze Merksätze wie drei-drei-drei Schlacht Issos Keilerei, als Alexander der Große die Perser besiegte oder eins-null-null – Cäsar trank die Pull oder neun-sechs-zwo – der Kaiser hieß Otto blieben gut im Gedächtnis hängen. Auch der Spruch sich wie gerädert fühlen regte die Assoziationen zum Mittelalter an.
In der frühen Neuzeit wurde den politisch-sozialen Beziehungen der Menschen im Bauernkrieg, während der Reformation, im Dreißigjährigen Krieg, einem Luther oder dem Buchdruck wieder etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Es war ja die Zeit des ersten Aufbegehrens der Menschen, der Aufstände der Bauern, eben der frühbürgerlichen Revolution, wie es die Schüler im Marxschen Sinne lernen sollten.
Die Zeit um die Französische Revolution sollte genauer untersucht werden. Es sei die Zeit gewesen, in der die Unterschichten das Alte nicht mehr wollten und die Oberschichten in der alten Weise nicht mehr konnten, also eine Krise zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern geherrscht habe. Der Geschichtslehrer vergab das Thema für einen Vortrag über den Frühsozialismus, über die utopischen Sozialisten. Schon im Urchristentum, in den alten Religionen des Altertums habe es Forderungen nach Gemeineigentum gegeben, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte. Manche sahen in Jesus einen Utopisten, der tendenziell für eine klassenlose Gesellschaft wirkte. Aber die Frühsozialisten haben Ideen für einen gerechten Idealstaat, für den Sozialismus als Staatsform entwickelt.
Also sollten Ulrich und vier weitere Mitstudierende gemeinsam einen Vortrag über die Utopisten halten und auch noch persönliche Konsequenzen aus dem studierten Stoff ziehen.
Nun saßen sie jeden Nachmittag und Abend in der großen Küche zusammen und