„Gleich morgen suche ich in den Geschäften nach einem aparten Kleidchen, so gewisse Vorstellungen habe ich schon. Katja, du hast morgen zeitig Schulschluss, ich würde mich freuen, wenn du mit kämest. Du hast so einen besonderen Blick fürs Schöne, du könntest mich beraten.“
Am folgenden Tag durchsuchten Sonja und Katja mehrere Konfektionsgeschäfte in der Altstadt und Neustadt nach einem schicken Kleid. Selbst das Exquisit-Geschäft Chic konnte seinem Namen nicht gerecht werden, nichts mit chic – überall nur langweilige, uniforme Konsum-Ware.
„Stets die gleichen Farben, der gleiche Universal-Schnitt – sicherlich wird bald ganz Dresden in den gleichen Klamotten ´rumlaufen – an jeder Ecke wird man glauben, sein Ebenbild zu sehen”, sprudelte es aus Katja heraus, als beide zuhause berichteten.
„Ihr habt doch prall gefüllte Einkaufsbeutel in der Hand”, sagte Ulrich.
„Ja, wenn schon kein Kleid, dann wenigsten Wurstwaren aus dem Delikat. Auserlesen fein, lecker, eben delikat”, sagte Sonja.
„Bei uns muss keiner hungern und frieren”, spöttelte Ulrich.
Es klingelte an der Wohnungstür. Ulrich öffnete:
„Ach, die Frau Nachbarin. Gundula komm‘ herein. Wir debattieren gerade über Mode und Kleidung bei uns im Land.“
„Und wie seid ihr auf das Problem gekommen“, fragte Gundula.
„Sonja sucht ein neues, modisches Kleid, das man nicht zigfach auf der Straße wieder sieht.“
„Es sollte 'was Individuelles sein, ich habe die Geschäfte abgeklappert. Kleider aus synthetischem Präsent 20 haben sie mir gezeigt. Alles gleicher Schnitt, unterschiedslos, nichts zum Ausgehen. Ja schön bunt, aber dieses Chemiefaser-Gewirk lädt sich auf, haftet dann an den Beinen und…man schwitzt darin.“
„Ja, ja, ich weiß schon, Menge und Planvorgaben stehen im Vordergrund, Kleidung wird als Gebrauchsgegenstand gesehen, Ästhetik wird kaum beachtet“, sagte Gundula.
Die großen Betriebe produzierten nur uniformierte Kleider. Alles sei langweilig, eintönig, eben Einheitslook, alles nach einer Vorlage, da brauchten sie wenige Entwürfe, so würde es billig, empörte sich Sonja.
„Für die konsumbedürftige Bevölkerung wird es reichen. Unsere werktätigen Frauen sollen sich auf Arbeit und daheim zweckmäßig kleiden und nicht elitär, nicht herausgehoben“, sagte ketzerisch Ulrich.
„Also nicht modisch?“, fragte Sonja.
„Schon der große Führer Mao wollte in China Missgunst zwischen den Menschen unterbinden“, setzte Ulrich dozierend fort.
Ulrich bot allen Wasser an, trank einige Schlucke und setzte spitz fort.
„Nun, Mode hat mit Auserlesenem zu tun – das widerspricht aber dem Konformismus im Lande, alle sollen ein angepasstes Verhalten in der Gesellschaft zeigen“, setzte spitz Ulrich fort.
„Aber Ulrich, du lockst ja heute den bissigen Stachel“, sagte Gundula.
„Ich verteidige meine Meinung, Kleidung soll nicht nur den Körper bedecken und vor Außenwelteinflüssen schützen. Mit der Kleidung wollen wir Frauen auch eine ästhetische Aussage treffen,...ein Lebensgefühl ausdrücken…eine Stimmung vermitteln“, sagte Sonja energisch.
„Genau, nachvollziehbar. Als Frau will man sich von anderen unterscheiden, man will sich von anderen absetzen“, sagte Gundula.
„Ihr Frauen wollt euch von der Masse abheben, ihr möchtet euch abgrenzen - individuelle, seltene Sachen tragen?“, bohrte Ulrich mit einem Unterton.
„Genau, ich will mit einem modischen Kleid meine Persönlichkeit unterstreichen. Verlange ich da zu viel?“, erregte sich Sonja.
„Aber der Haken ist doch – so etwas geht nicht in die Köpfe der überalterten Obrigkeit rein“, stellte Gundula fest, „das passt nicht in das begrenzte Weltbild dieser Obrigkeit. Das ist nicht mit dem Kollektivismus zu vereinbaren. Individuelle Interessen werden als bürgerlich abgetan und gelten als egoistisch.“
„Hat es nun Mao in China mit der Einheitskleidung richtig gemacht? Westliche Anzüge und moderne Frauenkleider wurden als bürgerlich gebrandmarkt. So kam es zum normierten blauen Mao-Anzug für die Männer. Das ist wohl auch nicht erstrebenswert?“, fragte rhetorisch Ulrich.
„Bei unseren sogenannten Freunden in der Sojus tragen die Schüler Schuluniformen”, sagte Gundula.
„In der von privatem Unternehmertum befreiten Gesellschaft soll es also keinen Neid geben, damit niemand den anderen ausstechen kann“, sagte Ulrich etwas spöttisch.
„Und der Einzelne mit seinen persönlichen Interessen soll sich den gesellschaftlichen Verhältnissen unterordnen und in diesen entwickeln? Hab ich richtig interpretiert?“, fragte Gundula.
„Wo bleibt da die Individualität?“, stellte Sonja die Frage.
„Aber in der Modezeitschrift Sibylle sieht man doch so schöne Kleider“, mischte sich Katja ein.
„Das mag schon sein, aber diese Kleider gibt es nicht zu kaufen, sie werden nicht produziert“, erwiderte Ulrich.
„Ich werde mir meine Kleider selbst nähen, da kann ich selbst modisch gestalten, Schnittmuster kann man kaufen“, meinte Katja.
„Eigentlich gibt es in unserer verkrusteten Textilindustrie keine Mode, es mangelt an Stoffen, an Ideen,…internationale Trends werden nicht umgesetzt“, stellte Ulrich fest, „und ich habe gehört, jeder Modevorschlag muss in der Frauenkommission der obersten Leitung begutachtet werden.“
„Es macht Spaß, mit euch zu debattieren“, stellte Gundula fest, „aber nun will ich meinen Kuchen backen. Könnt ihr mir mit drei Eiern aushelfen?“
„Aber natürlich“, und Sonja ging zum Kühlschrank.
Alle verabschiedeten sich.
Sonja ging es durch den Kopf, wie sie zu einem modischen Kleid käme?
7. Vorstudienzeit
„Ein Mensch ohne Bildung ist ein Spiegel ohne Politur“ Sprichwort
Zum Wochenende, am Samstagnachmittag, traf zur verabredeten Zeit Frau Mehnert bei Thalheims ein. Auch Familie Morgenroth war eingeladen. Ulrich Thalheim hatte vormittags mit dem Rad Kuchen aus der Landbäckerei in Nickern geholt. Verschiedene Sorten: der Sächsische Kläckselkuchen mit Quark, Mohn und Marmelade, Mohnkuchen, Eierschecke standen bereit. Er hatte schwarzen Tee und eine Kanne Kaffee zubereitet. Ulrich und Sonja liebten frischen Bauernkuchen. Frau Mehnert wollte zuerst Thalheims China-Tee probieren. Morgenroths schlossen sich an. Die schöne kräftige Farbe spräche sie an. Sie lobten den abgerundeten, milden Geschmack. Thalheim erklärte, dass das Zschertnitzer Trinkwasser aus einer Talsperre im Erzgebirge käme und sich hervorragend für die Zubereitung von Tee eigne.
Nach der Kaffeerunde kramte Thalheim ein kleines Notizbuch hervor. Er philosophierte, dass es früher, in vergangenen Zeiten, ja schon in der Antike sonntags Zusammenkünfte in den Städten, auf dem Lande an einem gemeinsamen Ort gegeben habe. Dort seien die Aufzeichnungen der Apostel und die Schriften der Propheten vorgelesen worden.
So werde er es nun auch tun, wenn er, wie vereinbart über die Erlebnisse seiner Studienzeit berichte. Er habe in einer Kladde so was wie Tagebuch geführt. Er nannte es Sudelbuch analog wie Kurt Tucholsky seine Aufzeichnungen bezeichnete, denn auch in seinem chemischen Praktikum habe er die Beobachtungen in einem Sudelbuch festgehalten. Also begann er die Aufzeichnungen, die Erzählung über seine, die Studienzeit Ulrichs, vorzulesen. Er gab sich Mühe, manches pointiert vorzutragen:
Nach der Lehre besuchte Ulrich dreimal die Woche nach der regulären Arbeit die Abendoberschule und erreichte so –