Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif. B. G. Bernhard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: B. G. Bernhard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752914078
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hineingesteckt, nach kurzer Zeit sei ein winziges Rinnsal Birkensaft geflossen. Es sei das Kommando gegeben worden, die Brust freizumachen und die Hosen runter zu lassen, um die markanten Stellen mit dem heiligen Saft einzureiben. Die Birke sei ja ein heiliger Baum und ein Helfer in Liebesnöten.

      Lothar, ein Biologieass, habe am Ende der Prozedur kleine Äste gesucht, die er in die Bohrlöcher gesteckt habe, damit die Bäume keinen Schaden nehmen sollten.

      Als er, Ulrich, die Grundschule beendet hatte, habe ihn die Stiefmutter in die Lehre in den Thüringer Wald geschickt. Seinem Vater, dem Gastwirt mit einfachen Denkstrukturen, sei es egal gewesen, er habe zu seiner neuen Frau gehalten, der Jung sei unnützes Beiwerk gewesen. Zwischen dem Vater und ihm sei keine Beziehung entstanden. Beide seien sich fremd geblieben.

      Thalheim unterbrach kurz seine Erzählung. Er öffnete die Balkontür, im Wohnzimmer war es sehr warm geworden. Wie in allen Neubauwohnungen ließ sich die Heizung nicht regulieren. Also musste dies über Fenster und Türen erfolgen.

      Er fuhr fort.

      Er, Ulrich, habe im tiefen Thüringer Wald einen Beruf erlernt. Schon im zweiten Lehrjahr habe der Arbeitstag früh vier Uhr begonnen, obwohl es gesetzlich nicht zulässig gewesen sei. Später seien auch Nachtschichten dazu gekommen.

      Zum Wochenende sei er zu den Eltern gefahren, die an den Ausläufern des Thüringer Waldes wohnten. Er sei dabei mit einem kleinen leichten Motorrad die steilen Straßen hinauf über den Rennsteig gefahren und dann wieder steil hinab. Im Winter habe er selten gut Spur auf der vereisten oder tief verschneiten Fahrbahn mit tiefen Spurrillen halten können, viele Male sei er mit dem kleinen Motorrad gestürzt und auf der Fahrbahn glatt hingeglitten.

      Im Hotel der Eltern auf dem Dachboden, wo es ein mit Brettern abgetrenntes Kabuff mit Licht nur über ein kleines schräges Dachfenster gab, habe er sich fernab von allem Geschehen im Haus einen Schlafplatz und so einen Zufluchtsort eingerichtet, erzählte Thalheim. Die Bretter habe er mit Tapete überzogen. Trotzdem habe der Wind durch die Ritzen gepfiffen und heulende Geräusche hervorgerufen. Nachts sei auf dem Dachboden noch das Kratzen, Laufen, Tapsen, Knappern und Geraschel Unterschlupf suchender Tiere hinzugekommen, wahrscheinlich von Siebenschläfern oder Waschbären. Die Ausscheidungen der Tiere hätten einen bestialischen Gestank verbreitet. Im September sei anscheinend die Besuchszeit vorbei gewesen. Geräusche seien nicht mehr wahrgenommen worden, der Winterschlaf habe begonnen. Doch welch ein Graus, im Frühjahr habe sich das nächtliche Getümmel fortgesetzt und wie es schien mit verstärkter Intensität. Wenn nun noch die Hochzeit der Tiere hinzukam und sich Dreck und Lärm verstärkten, musste der Ausbreitung der Tiere Halt geboten werden. Er habe Lebendfallen aufgestellt und mit Apfelstücken die Unruhestifte angelockt. Nach dem nächtlichen Klack der Falltür habe er am Folgetag die Falle im Karton auf dem Fahrrad durch ausgedehnte Wälder transportiert, wo er die Falle am Rand von Streuobstwiesen dann geöffnet habe.

      Im Winter sei auf dem Dachboden oft der Schnee durch das geöffnete Dachfenster geweht worden, früh sei die Feuchtigkeit des Atems an der Bettdecke gefroren gewesen. Im Sommer haben Spinnen einen kühlen Platz neben der Dachluke gesucht. Spinnweben überdeckten die Öffnung. Mit Eintritt der Dunkelheit liefen kleine Lichtspiele an der dem Dachfenster gegenüber liegenden Wand ab, allmählich breitete sich ein dunkler Schleier aus.

      Von seinem Bett aus, habe er, Ulrich, nachts direkt den Himmel sehen können. Frühkindliche Erinnerungen an Peterchens Mondfahrt seien ihm manchmal in den Sinn gekommen, er habe an die Milchstraße, den Großen Bären und an die Sternenwiese gedacht, wo Kinder ihre Sternchen umarmten.

      Später haben die Beobachtung der Sternsysteme seine Gedanken angeregt, über Raum und Zeit, über außerirdische Bereiche, über den Kosmos, über Struktur und Expansion, über die Unendlichkeit nachzudenken.

      Neben dem Bett habe noch eine Kommode gestanden, in der er für sich Pralinen deponierte. Er habe bemerkt, dass die Stiefmutter seine Kammer hin und wieder inspiziert und sicherlich auf Damenbesuche tippt habe, denn die kleinen Härchen, die er über den Spalt der Schubkästen geklebt habe, seien verschoben oder verschwunden gewesen.

      In der Gastwirtschaft habe er über das Wochenende bedient. Sonntagnachmittags seien im Sommer die vielen Schaulustigen vom Fußballspiel gekommen, die meist Bier aus Stiefeln tranken. Das Trinkritual musste beherrscht werden, durch geschicktes Drehen beim Trinken sei ein Gluckern an der Stiefelspitze zu vermeiden gewesen, sei dies beobachtet worden, musste der Verursacher die neue Runde bestellen.

      Zu Feiertagen, zur Kirmes und an anderen besonderen Tagen sei im großen Saal der Wirtschaft Tanz veranstaltet worden, der starken Zuspruch gefunden habe. Bei solchen Veranstaltungen sei auf dem Dorf viel getrunken worden, der Bedarf noch harten Getränken und Likören sei hoch gewesen. Schon Wochen vorher habe die Stiefmutter zu ihm, Ulrich, gesagt, dass viele Getränke gebraucht würden. Er habe doch Giftmischer werden wollen, also habe er die Aufgabe erhalten, Eier-, Schokoladen-, Pfefferminz-, Kümmel-, Enzian- Kräuterliköre und Wodka herzustellen.

      Die Chemie der Koch- und Backkunst und die Kräuterkunde hätten Thalheim stets interessiert, so dass er auf der Basis von Füllcremes – also Puddings – denen die entsprechenden Zusätze wie Ei oder Kakao und am Ende Alkohol beigemischt wurden, literweise die gewünschten Getränke zubereitet habe. Der 96er Lebensmittel-Primasprit sei zweimal mit Aktivkohle behandelt und verdünnt worden und habe den nichtkratzenden, milden Wodka ergeben. Aus Kräutern der Apotheke habe er durch Extraktion den Thüringer Bitter hergestellt.

      Die Stiefmutter habe die Originalflaschen der entsprechenden Getränke aus der Wirtschaft und von allen Verwandten pedantisch gesammelt und mit den neuen Zubereitungen wieder gefüllt.

      Er, Ulrich, habe ein kleines Trinkgeld erhalten, die Stiefmutter habe riesengroße Gewinne, die einem Vielfachen des Materialeinsatzes entsprachen, gemacht.

      Sparsam zu sein, gut zu rechnen, optimal die Prozesse im Hotel zu organisieren, stets die Rendite im Blick zu haben, das sei ihr tägliches Metier gewesen. Aber auch in der privaten Sphäre seien viele Handlungen hart an der Grenze zum Geiz gewesen. So sei der Rückstand des aufgebrühten Tees mehrere Tage verwendet worden, zusammen mit der Zitronenschale sei dieser mit Wasser erneut aufgekocht worden. Nach mehrmaliger Verwendung habe sich das Volumen der Zitronenschale beträchtlich vergrößert. Aufgedunsen habe sie im Sud geschwommen und sonderbare Assoziationen zu toten Wesen hervorgerufen.

      Stets seien Reste zu neuen Gerichten aufgearbeitet worden. Brotreste vom Vortag hätten mit Zwiebel, Anis, Fenchel, Kümmel die bayerische Brotsuppe ergeben, die von den Gästen als sehr delikat eingestuft worden sei. Zwar hätten vielleicht noch Piment, Koriander gefehlt – aber solche Gewürze waren in Ostdeutschland nur gegen Devisen einzuführen und demnach selten, manchmal seien sie zur Weihnachtszeit kurzzeitig erspäht worden.

      Thalheim unterbrach seine Schilderungen und kredenzte Frau Mehnert und Sonja ungarischen Balatonwein, den alle als sehr süß empfanden. Einheimische Weine, solche von der Unstrut oder aus dem Gebiet um Meißen, waren im Freiverkauf nicht erhältlich, nur in speziellen Weinstuben wurden sie angeboten.

      Thalheim fragte Frau Mehnert, ob er seine Erzählung über seine Jugend fortfahren solle. Er erhielt nickende, bejahende Zustimmung.

      Vor Weihnachten habe die Stiefmutter verschiedene Pakete zusammengesucht, die sie von Verwandten aus dem Westen auf Anforderung im Laufe des Jahres erhalten habe. Aus ihnen habe sie viele Sachen entnommen, die es im Osten nicht gab. Sie habe ihn, Ulrich, beauftragt, alle Dinge und Köstlichkeiten mit Geschenkpapier einzupacken und mit Namen zu versehen, wofür sie eine Liste übergab. Am Ende habe sie gesagt, dass dies Geschenke für ihre Verwandten seien. Ein Geschenk für ihn, Ulrich, müsse sein Vater besorgen. Sekunden später sei noch leise zu hören gewesen, dass der Vater wohl daran nicht denke.

      Seine, Ulrichs eigene Tochter, habe ihn später einmal gefragt, weshalb er immer wieder zu seinen Eltern gefahren sei, wenn er wie ein Frondienstler, wie ein Fremder behandelt worden sei. Er habe doch keine Zuneigung, keine Geborgenheit erfahren, kein liebes Wort je gehört.

      Er habe damals seiner Tochter geantwortet, dass es wohl so eine eingeimpfte, verinnerlichte christliche Autoritätshörigkeit gewesen sei – vielleicht