Mein Reisetagebuch
Es ist wieder Vollmond und ich kann mal wieder nicht einschlafen. Mein Blick ist starr auf die helle rechteckige Fläche an der Wand gerichtet und ich betrachte die sich vom Wind bewegenden Schatten von den Ästen der kahlen Bäume. Doch der leuchtende Wintermond am sternenklareren Himmel ist nicht der Grund dafür. Denn auch wenn sich nie etwas ändert ist diese Unruhe da - vielleicht auch gerade wegen dieser abnormalen Stille die sobald nicht mehr enden wird? Dazu die lange eisige Kälte des Winters. Ohne Erbarmen ist er jedes Jahr wieder da. So auch jetzt.
Um meine Unruhe los zu werden und meine Gedanken zu ordnen habe ich mir überlegt dieses Tagebuch zu schreiben. Vielleicht hilft es mir ja ruhiger zu werden? Nun denn - dann fange ich mal an ganz von vorne zu erzählen:
Das „Ende“ von unserer glücklichen und funktionierenden Welt wie wir sie gewohnt waren ist nun schon ganze fünf Jahre her. Zunächst hatten wir alle noch die Hoffnung es würde nur vorübergehend so sein, sich bald alles wieder erholen oder größtenteils sich wieder einrenken. Aber allmählich wird meine Befürchtung immer stärker: Es ist unwiederherstellbar vorbei!
Mittlerweile habe ich mich an diesen neuen Zustand ganz gut angepasst. Es ist nach den letzten zwei Winter sogar noch ruhiger geworden. Menschen begegnen einem kaum noch mehr. Und das ist eigentlich auch ganz gut so. Man muss sich nicht ständig verteidigen oder permanent in der Angst davor leben.
Aber leichter ist es deswegen auch nicht geworden - denn nun ist es die Natur, die einem zum Feind wird, die einem jedes Jahr immer wieder eine Menge Kraft abverlangt und einen schleichend immer mehr zurückdrängt. Alleine ist man zu wenig um sich gegen sie behaupten zu können.
Noch bin ich mit meinen 24 Jahren jung, stark und gesund. Und genau deswegen muss ich mich bald entscheiden! Die alten Erinnerungen an mein ehemaliges Zuhause stammen aus einer anderen Zeit - und meine neueren Erinnerungen waren bislang nur die Hölle… Es wird sich nun mal nichts ändern können und genau das beunruhigt mich unterschwellig, glaube ich.
Warum gerade ich überlebt habe, weiß ich nicht. Vielleicht habe ich mich einfach nur mehr zurück gehalten und rechtzeitig davon gemacht? Niemand, der noch lebt, hat in den letzten Jahren ein sauberes Gewissen behalten können. So traurig es klingt, aber es gibt nur noch ein einziges Gebot welches man befolgen muss - das Überlebensprinzip:
„Töte schneller damit DU leben kannst.“
Das wird, so hoffe ich, irgendwann einmal nicht mehr das Leben bestimmen und dann wahrscheinlich nur noch sehr schwer zu verstehen sein. Aber jetzt ist es die Wirklichkeit in der wir leben müssen. Über Nacht war eine andere Welt entstanden die unsere bisherige Kultur und Werte völlig auslöschte!
Dabei war bei meiner Lebensplanung alles auf dem besten Wege gewesen: den Abschluss der Berufsausbildung in der Tasche, bald eine eigene Wohnung und meine Freundin mit der ich später einmal eine Familie gründen wollte… Das war von diesem Moment an vorüber.
Der Alptraum fing damit an, dass es wirtschaftliche Engpässe gab. So nannte man es zunächst in den Nachrichten. Aber das war ja an für sich nichts Außergewöhnliches. Bedenklich war nur, dass die weltweite Wirtschaft international kreuz und quer über den Globus verknüpft und völlig verschoben war. Die Macht im Lande hatten nun nicht mehr die Regierungen sondern zum Teil ausländische Firmen, die den Geldfluss lenken konnten und über Arbeitsplätze bestimmten. Die Abhängigkeit war enorm!
Als dann auch noch eine Energiekrise diese Leute unter Druck setzte, gab es ein paar sehr unschöne und heftige Reaktionen - nur um seine Machtposition und den Zugriff auf Ressourcen nicht zu verlieren. So konnten einzelne Konzerne beschließen, dass ganze Länder ohne Versorgung blieben. Stell’ dir vor du gehst jede Woche einkaufen um deinen täglichen Bedarf zu decken und es gibt so gut wie nichts mehr. Überall, in sämtlichen Läden. Das ging eine Weile gut bis der wenige Sprit einfach unbezahlbar wurde und nichts mehr nachkam. Die Wirtschaft blieb stehen und Reserven waren schnell verbraucht. Dann brach alles zusammen…
So kam es zu ersten Plünderungen, denn man hatte sich und seine Familie zu ernähren und niemand wollte was abgeben. Meine Eltern sind bei einem Versuch etwas zu organisieren nie mehr wiedergekommen.
In den Dörfern auf dem Land versuchte man sich zu organisieren und sich autark mit Hilfe der Landwirtschaft zu versorgen. Das ging so lange gut bis die Menschen aus den Großstädten kamen. Wir alle zusammen waren einfach zu viele. Während die einen angstvoll bereit waren alles zu tun um gemeinsam durchzukommen, nahmen die anderen eine Abkürzung: „Nimm’ dir was du brauchst und sei schneller!“ Ob als Einzelkämpfer oder in Banden - es war immer konsequent tödlich und ein Sieg für die Dreisteren. Viele gutherzige Menschen sind ihnen zum Opfer gefallen und als nur noch die Brutalen übrig waren, ist die Moral bei allen gekippt.
Ich schätze, dass von hundert Menschen nur zwei bis fünf übrig geblieben sind. Das letzte was man in den Radionachrichten hören konnte, war die Behauptung, dass es anderswo wieder besser wäre und bald Hilfe kommen würde. Das ist, wie schon gesagt, nun fünf Jahre her und ich glaube nicht mehr an einen neuen Anfang.
Ich werde nicht mehr auf eine Veränderung warten, sondern ich werde nun gehen! Am besten Richtung Süden und raus aus der tödlichen Kälte dieser Gegend hier. Denn gegen die Natur kann man nicht ankämpfen. Das muss ich gleich morgen früh Ben erzählen. Die Idee wird ihm bestimmt gefallen…
1. Tag
Ben war sogar mehr wie begeistert!!! Zumindest habe ich das an seinen Augen und Gesichtszügen deutlich erkennen können. Gesagt hat er wie immer leider nichts. Den ganzen Morgen waren wir intensiv am planen was wir für die Reise mitnehmen müssen. Hier in unserem kleinen Dorf haben wir ja genug von allem.
Die meisten Häuser stehen zum Glück noch, aber alle wurden aufgebrochen und die Scheiben der Fenster zertrümmert. Unser Ort unterscheidet sich somit nicht von anderen Ortschaften. Dennoch liegt er strategisch gut in einem kleinen Tal am Hang, umgeben von jede Menge Wald und ehemaligen Feldern, die längst überwuchert sind und zu einer schützenden Buschlandschaft mit vielen Tierpfaden verwildern. Für uns das ideales Versteck!
In einem der Häuser haben wir uns einquartiert. Mit allem Komfort den dieser Ort bietet. Denn Baumaterialien, Werkzeuge, Kleidung, Möbel, ja so ziemlich fast alles gibt es zur freien Verfügung in jedem Haus.
Dennoch sieht man von unserer Anwesenheit so gut wie nichts. Es kam nämlich oft genug vor, dass Fremde durch unser Dorf auf der Suche nach brauchbaren Vorräten zogen. Wehe die hätten Spuren von unserer Existenz entdeckt! So haben wir ein halb eingestürztes Haus ausgewählt in dessen niedergerissenem Teil wir unter dem Schutt ein Versteck eingerichtet habe - regensicher und warm verpackt. Geschlafen wird in einem Campingzelt. Das spart einem das Heizen im Winter. Und gewaschen wird sich in einer alten Wanne die Regenwasser aufnimmt - immer frisch!
Das Kochen ist natürlich auch so eine Sache, denn Rauch würde einen verraten. Somit geht der ganze Qualm in das Innere des restlichen Hauses wo es sowieso einmal gebrannt hatte. Das fällt kaum auf. Unsere Vorratskammern haben wir überall im Ort verteilt eingerichtet und gut versteckt. Denn als wir vor drei Jahren einmal völlig ausgeplündert wurden, war das ein echtes Desaster! Es sind nun aber nur noch wenige Restbestände der Konserven, die wir aus dem ganzen Ort zusammengetragen hatten, übrig. Und diese gehen bald zu neige.
Grundsätzlich müssen wir uns von dem ernähren was die Natur einem so bietet. Man hat ja sonst aber auch nichts zu tun. Keine Arbeit oder Schule, keine Verpflichtungen oder Vereine. Jede Menge Zeit, die man für das Fällen von Bäumen von Hand, das Kleinhacken der Stämme und Äste oder für die Ernte und Jagd verwenden muss. Was unser Dorf so besonders attraktiv macht, sind die vielen Obstbäume und der Fischteich unten im Tal - eigentlich mochte ich noch nie Fisch.
Säen und Ernten habe ich bald aufgegeben. Es ist auch viel zu gefährlich Spuren von Leben zu hinterlassen. Selbst ein frisch geschlagener Baumstumpf kann einen verraten und muss vorsorglich getarnt werden. Im Endeffekt hat man gelernt mit Ressourcen sparsam umzugehen.