Seine Angst von der ‘Gesellschaft’ wegen Obstruktion bestraft zu werden, wurde zusätzlich belastet von unangenehmen Signalen, die er aus seiner eigenen Behörde empfing.
Immer deutlicher wurde ihm signalisiert, dass man innerhalb der Staatsanwaltschaft und bei den zuständigen Ermittlern Verdacht schöpfte, denn einige der von ihm weitergeleiteten Daten waren nach dem ersten gescheiterten Entführungsversuch falsch und einmal wurde der Bande eine Falle gestellt.
Er argwöhnte zudem, dass eine interne Ermittlung gegen ihn im Gange war. Seit ihm der Fall zwar nicht direkt entzogen worden war, man hatte ihn zum Supervisor ernannt, war sein Zugriff in die Steuerung des Prozesses massiv eingeschränkt.
Verzweifelt arbeitete er daran, um sich der Verdachtsmomente wegen Amtsmissbrauchs zu entledigen und seine Spuren zu verwischen.
Das Schlussplädoyer der Anklage, in dem es massiv auf die Aussagen der Kronzeugin ankam, lag nunmehr in den Händen seines Mitarbeiters, der den Antrag für das Strafmaß deutlich gegenüber seinen Anträgen zu Beginn des Verfahrens erhöht hatte. Zwei Wochen standen ihm noch zur Verfügung, um das zu ändern.
Eine ungewohnte Angst hatte von ihm Besitz ergriffen, und von Woche zu Woche steigerte sich seine innere Unruhe. Echte Ruhe würde erst einkehren, wenn die Zeugin außer Landes oder besser noch tot wäre.
Er seufzte. Seine Geduld war erschöpft.
Aus Angst aufzufliegen, wollte er jetzt und sofort von seinem Kontaktmann die klare Zusage, dass dieses Risiko ein Ende haben sollte. Dass die Zeugin endgültig zum Schweigen gebracht würde. Der Boss hatte zwar während des ganzen Prozesses gedroht, er würde hart durchgreifen, aber tatsächlich schreckte er vor dem harten und finalen Schritt der Tötung der Kronzeugin zurück und versuchte es mehrmals mit Entführungen, die allesamt kläglich scheiterten. So brutal er sonst gegen Gefährder der ‘Gesellschaft’ vorging, so zurückhaltend handelte er, wenn es um die Frau ging, die seine Geliebte war, und die dennoch den Laden verpfiffen hatte.
Die Beweggründe der Zeugin, warum sie sich mit diesem Windhund von Ermittler einließ und sich von ihm ein Kind machen ließ, waren ihm völlig egal. Nicht egal war ihm das Risiko, dass für einen Maulwurf sein Schicksal als Staatsanwalt in ihren Händen lag.
Wenn er seinem Bauchgefühl gefolgt wäre, hätte er sie längst töten lassen, so wie er es mit diesem Heiner Mummert arrangiert hatte. Damals hatte er den Boss so lange mit Informationen gefüttert, bis der beschloss, diesen Dreckskerl von einem Investigativ-Journalisten abzuknallen, der ihnen allen zu nahe gekommen war.
Er hatte seinen Teil der Aufgabe, den der Boss jetzt von ihm konkret erwartete, nach seiner Ansicht mehr als nur erledigt. Er hatte sämtliche geforderten Daten zum aktuellen sicheren Wohnort gestern beschafft, obwohl er das Risiko kannte, wenn er im Datenbereich des LKA unberechtigterweise recherchieren würde. Und er hatte überdies die Information geliefert, wann der Übertritt in das offizielle Kronzeugenprogramm angesetzt war.
Glücklicherweise konnte er sich diesen Zutritt in einem letzten verzweifelten Ansatz einfacher verschaffen, als er hoffte, und er musste noch nicht einmal seine immer noch gültigen Administratorenrechte einsetzen, was eventuell nachvollziehbar gewesen wäre. Netterweise hatte sich die Kronzeugenbeauftragte des LKA morgens eingeloggt und danach aus reiner Bequemlichkeit das Zugangskonto offengelassen, sodass sich jeder von ihrem PC aus in der Datenbank frei bewegen konnte. Diese Art von Dateneinsicht wurde vom System weder als Vorgang noch als Verstoß registriert, und die Daten waren zu diesem Zeitpunkt im IT-System der Staatsanwaltschaft auch nicht mit einem separaten Passwort gesichert. Er war unbehelligt in der Mittagspause in ihr Büro in Frankfurt spaziert und hatte sich die Daten, die er brauchte, aus dem System geholt. Dann war er wieder verschwunden.
Vor wenigen Minuten hatte er seinem Kontakt die gewünschten Angaben zum aktuellen Zufluchtsort der Kronzeugen per SMS durchgegeben und zusätzlich den Zeitpunkt, zu dem der Übertritt der Familie in die neue Identität stattfinden sollte. Der für den Boss wichtige Teil der Aufgabe war erledigt, der für ihn kritische Teil stand ihm noch bevor.
Er atmete durch, drückte entschlossen die Kurzwahl, und sein Kontakt nahm seinen Anruf sofort entgegen.
Anders als erhofft, ließ sich sein Gesprächspartner trotz seiner Gefährdungslage und seines persönlichen Risikos nicht in seiner Haltung beirren. Er lehnte seine Forderung glatt ab, die Zeugin final zu beseitigen. Er teilte ihm stattdessen lakonisch mit, der Boss hätte unbeirrt seinen Plan bekräftigt, die junge Frau mit Tochter so unauffällig und schnell wie möglich außer Landes zu bringen. Seine Rache galt ausschließlich dem Dieb seiner Geliebten und nicht der Geliebten selbst. Er wollte gegenüber dem Personenschützer und Dieb seines Eigentums ein Exempel statuieren, und ihn mit der Geiselnahme seiner Familie bestrafen. Er sollte unter dem Eindruck leiden, dass man den beiden unvorstellbare Schmerzen zufügen würde.
Der Oberstaatsanwalt kapierte, dass seine Hoffnungen zu hoch gegriffen waren. Es war sein Fehler, dies zu erwarten. Karl Miltner war enttäuscht und beendete das Gespräch. Danach zögerte er keine Sekunde, bevor er eine zweite SMS losschickte.
Von Rechts wegen handelte es sich bei dem, was er vorhatte, um eine lupenreine Erpressung, die er jedoch als Deal bezeichnen würde mit jemandem, der ihm noch einen Gefallen aus einem früheren Strafprozess schuldig war. Dieser Jemand war ein hochrangiges Bandenmitglied derselben ehrenwerten ‘Gesellschaft’, welches vor längerer Zeit von einem Opfer wegen Vergewaltigung angezeigt wurde. Als das Opfer einige Tage nach der Anzeige durch einen merkwürdigen Haushaltsunfall zu Tode kam, hatte der damalige Staatsanwalt Miltner, auf Druck der ‚Gesellschaft‘, das Verfahren gegen den Verdächtigen wegen Mangels an Beweisen und Selbstmord des Opfers eingestellt. An diesen Jemand leitete Karl Miltner in diesem Moment ebenfalls die Anschrift der Zeugin weiter, allerdings mit einer kleinen Korrektur. Er datierte das geplante Fluchtdatum der Familie um einen Tag vor und bat ihn, pünktlich zu sein.
In der SMS an seinen Killer fügte er neben den Angaben zum Aufenthaltsort die schlichte Bitte hinzu, die Kronzeugin zuverlässig auszuschalten, damit sie nie mehr gegen ihn und die ‚Gesellschaft‘ aussagen könnte. Seiner Einschätzung nach hatte der Empfänger der SMS ebenfalls ein natürliches Interesse daran, der Zeugin den Mund zu stopfen. Er wusste, dass er sie indirekt für den Tod seines Sohnes verantwortlich machte, der durch die Kugeln der Polizei bei der gewaltsamen Beendigung des Drogentransportes starb.
Als Back-up blieb ihm immer noch die Chance, dass der Spezialist, den der Boss schicken würde, die Zeugin zuverlässig entführen würde. Das wäre dann nach seiner Einschätzung nicht die sichere Variante, die er sich wünschte, aber immerhin wäre die junge Frau dann für absehbare Zeit keine Belastungszeugin mehr sowohl gegen die ‚Gesellschaft‘ wie gegen ihn.
Er war sicher das Richtige getan zu haben, um wieder angstfrei leben zu können.
Und er dachte auch an eine Zukunft, in welcher dieser Jemand im künftigen Machtkampf um die Führung der ‚Gesellschaft‘ bessere Karten haben würde als der aktuelle Anführer. Dann säße er endlich am längeren Hebel.
Kapitel 3
Symbole haben für die Mitglieder der ‚Bratwa‘ immer eine tiefere Bedeutung. So kennzeichnet ein umrahmter Diamant je nach Verzierung einen Offiziersgrad. Die Bratwa ist straff hierarchisch gegliedert, wobei dem Boss oder Anführer, ein Unterboss oder stellvertretende Anführer zur Seite steht. Sie führen die "Kapitäne", und die wiederum die „Soldaten“. Alle „Mitglieder“ der ‚Bratwa‘ bilden die ‘Gesellschaft’ und sie wählen ihren Anführer.
Landgericht Frankfurt, Mittwoch 14.10.2009, 13:30 Uhr
Der Verteidiger