»Alles, was mich interessiert, Adam, ist, warum Sie ausgerechnet jetzt die Flucht ergreifen«, sagte Lucy ungewohnt ernsthaft. Zweifel nahm noch einen zweiten und einen dritten Schluck, dann setzte er seinen Becher vorsichtig ab.
»Es hat nichts mit Ihnen zu tun, Lucy.«
»Jetzt sagen Sie bloß noch, ich soll’s nicht persönlich nehmen, dann nehm’ ich Ihnen persönlich sofort den Becher weg.« Zweifel strich mit der rechten Hand über seinen kahlen Kopf.
»Es ist ganz einfach, Lucy. Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich dringend eine Veränderung brauche. Ich hasse Routine. Die macht mich depressiv. Ich will nicht am Sonntagabend schon wissen, wie die Woche ablaufen wird. Bad Wörishofen ist mir zu klein geworden. Ich brauche mehr Auslauf.« Lucy ließ sich das durch den Kopf gehen und pustete nachdenklich in ihren Kaffeebecher. Sie bedachte Zweifel mit einem langen Blick. Dann zog sie die Nase kraus und schnalzte mit der Zunge.
»Ich geb’s nicht gerne zu, aber ich glaube, ich kann Sie verstehen«, sagte sie und lächelte ihn resigniert an. Er nickte.
»Die Frage ist, ob Melzick es versteht. Aber da kann ich ihr nicht helfen.«
»Es kommen harte Zeiten auf uns zu. Ich sehe einen Tsunami von Problemen am Horizont meines Schreibtischs«, erwiderte sie und verdrehte die Augen. Er musste grinsen.
»Haben Sie schon mal überlegt, ein Buch darüber zu schreiben?«
»Worüber?«
»Über Ihren Schreibtisch.«
»Ha!«
»Lachen Sie nicht. Es gibt ein ganzes Buch über den Schreibtisch von Thomas Mann.«
»Wer liest denn so was?«
»Ich zum Beispiel.«
»Also gut, dann glaube ich das auch noch. Aber dann können Sie genauso gut ein Buch über Ihren Cadillac schreiben.«
»Wer würde denn so was lesen?«
»Ha! Ich bestimmt nicht.« Zweifel nahm noch einen Schluck. Lucy tat es ihm nach. »Machen Sie sich keine Gedanken um Melzick. Wenn es ihr zu blöd wird, schmeißt sie den Job hin, packt ihren Rucksack und geht nach Kanada.«
»Hat sie das gesagt?«
»Nicht wörtlich, aber ich kann zwischen den Zeilen hören. Immerhin müssen wir jetzt mit Ihrem Nachfolger klarkommen, der ja noch gar nicht feststeht und außerdem auch noch mit Frau Dr. Schimmelpfeng.«
»Wer ist das denn?«
»Klopfers Nachfolgerin.«
»Woher wissen Sie das?«
»Klopfers Post geht durch meine Hände, das wissen Sie doch. „Herrn Polizeirat Alois Klopfer persönlich-vertraulich“ stand auf dem Umschlag.«
»Und für das Vertrauliche sind Sie persönlich zuständig?«
»Wer sonst wohl würde dafür in Frage kommen? Die Frau Doktor Sch. hat unserem Noch-Chef eine Zehn-Punkte-Liste zukommen lassen. Oberste Priorität hat für sie demnach ein Namensschild an ihrem neuen Büro. Maße, Schriftart, Schreibweise — alles detailliert festgelegt. Sie hat sogar aus einem Katalog für Büroeinrichtungen ein Muster ausgeschnitten. Das Ding wird größer als mein Bildschirm.«
»Jetzt übertreiben Sie aber.« Lucy schüttelte den Kopf.
»Das wird die härteste Nuss, die ich je zu knacken hatte. Möchten Sie noch ein Tässchen?« Zweifel sah auf die Uhr und wiegte den Kopf hin und her. »Haben Sie etwa noch einen Termin?«, wollte Lucy wissen.
»Ich muss noch ein paar Umzugskisten packen.«
»In meinen Augen hat das Zeit. Wieviel Zeug haben Sie denn? Denken Sie minimalistisch. Alles, was Sie nicht innerhalb einer Stunde eingepackt haben, brauchen Sie nicht.«
»Interessanter Gedanke. Den muss ich erst verarbeiten. Vielleicht hilft mir dabei doch ein zweites Tässchen. Und dann erzählen Sie mir mal, wie Sie der Frau Doktor Sch. das Ordnungssystem Ihres Schreibtischs erklären wollen.«
Die Wasserflasche war leer. Die staubige Luft im „Weißen Hasen“, die Hitze, das Warten — eine Flasche war eindeutig zu wenig. Aber diese Einsicht kam zu spät. Nur noch etwa dreißig Minuten. Viel länger konnte es nicht mehr dauern. Der Lärm, den die Demonstranten auf dem Königsplatz machten, war selbst hier, ein paar hundert Meter entfernt, durch die geschlossenen Fenster zu hören. Der Zeitablauf war klar. Um 13 Uhr startete das Ganze mit einer kurzen Ansprache. Dann würde sich der Zug Richtung Annastraße in Bewegung setzen. Eventuelle Verzögerungen durch die Polizei waren nicht auszuschließen. Es würde genügend Zeit bleiben, geeignete Ziele auszusuchen, sich zu konzentrieren und die Sache zum Abschluss zu bringen. Danach würde es ein Leichtes sein, das Gebäude unbemerkt zu verlassen und in dem zu erwartenden Chaos zu verschwinden.
»Da kommen sie!«, rief Zacharias. Er hatte Melzicks Dreadlocks rot leuchten sehen. Jocelyn nickte stumm. Sie hatte das Transparent noch nicht entrollt und hielt es krampfhaft in ihrer linken Hand. Ihre Blicke gingen immer wieder hinüber zu einer etwa zwanzigköpfigen Gruppe von Männern unterschiedlichen Alters, die sich unter den großen Bäumen links von ihnen aufhielten. Sie hatten einen festen Ring gebildet, indem sie sich die Arme auf die Schultern legten. Auch Zacharias waren sie aufgefallen, weil sie alle die gleiche gelbe Baseballmütze trugen, auf deren Schirm drei fette Buchstaben prangten.
»Scheint ein komischer Verein zu sein«, sagte Zacharias. Jocelyn drückte seine Hand. »Immerhin tragen sie keine Waffen«, versuchte er, sie zu beruhigen. Was nicht gelang. Melzick hatte sich zu ihnen durchgeschlängelt und gab ihrem Bruder einen Klaps auf die Schulter.
»Wie ich dich kenne, hast du die Schokodinger schon vernichtet, kleiner Bruder.«
»Falls du die Brownies meinst, einen hab ich noch. Aber der hat Einzelhaft.«
»Was soll das heißen?« Zacharias zeigte ihr eine winzige Blechdose.
»Eiserne Reserve. Den teilen wir uns, wenn die ganze Sache gut über die Bühne gegangen ist.« Irgendetwas an seinem Tonfall machte sie stutzig. Der kurze Marsch vom Bahnhof bis zum Königsplatz inmitten tausender Leute, die alle dasselbe Ziel hatten, hatte Schritt für Schritt eine Euphorie in ihr geweckt, die ihre meerblauen Augen leuchten ließ.
»Hast du etwa Zweifel daran? Phil hat doch alles profimäßig organisiert.« Jocelyn warf ihr einen dunklen Blick zu.
»Wollen wir das Transparent gemeinsam tragen?«, fragte Melzick. Jocelyn lächelte scheu und reichte ihr einen der Holzstäbe. In diesem Moment ließ ein schriller Pfeifton die riesige Menschenmenge zusammenzucken. Gleich darauf ertönte Phils Stimme aus gewaltigen Lautsprechern. Er stand auf einem hölzernen Podest Marke Eigenbau, das wie ein oben abgesägter Hochsitz aussah.
»Sorry Leute. Leiht mir euer Ohr für ein paar Sätze, bevor wir mit der Demonstration unserer Wut, unserer Empörung und unserer Forderungen loslegen. Ich bin Phil und ich bin hier verantwortlich. Ihr seid schätzungsweise achttausend und jeder einzelne von euch ist auch verantwortlich. Das wird die größte legale Demo, die Augsburg je gesehen hat.« Ohrenbetäubender Jubel brach aus. Phils Ansprache wurde von einer Sambatrommelgruppe auf mindestens drei Dutzend Djemben in einem gleichmäßigen, langsamen Rhythmus begleitet. Wie von ihm beabsichtigt, verstärkte dieser Sound die Wirkung seiner Worte enorm.
»Lasst uns ein Experiment machen. Zeigt eure Wut, aber seid friedlich! Macht eurer Empörung lautstark Luft, aber bleibt sympathisch! Präsentiert eure Forderungen energisch, aber gewaltfrei! Seid kreativ, witzig, frech, aber ohne Alkohol! Seid unüberhörbar und unübersehbar, aber ohne falsche Parolen!« Phil wusste, wann er eine Pause zu machen hatte. Melzick bewunderte im Stillen seine Fähigkeit, eine solche Menschenmenge mit wenigen Worten einzustimmen.
»Habt