Hasserfüllt starrte sie ihren Vater an. Wahrlich, es fehlte nicht viel und sie hätte ihm den Rest des lauwarmen Kaffees ins Gesicht gekippt, in dem sie die ganze Zeit mit dem Löffel rührte. Warum tat sie sich so etwas immer wieder an? Wäre ihr Bruder nicht gewesen, sie hätte den Alten längst über den Jordan gejagt. Diese ständigen fadenscheinigen Moralappelle konnte er sich sparen. Und wenn sie jetzt nicht ging, dann nur aus Rücksicht auf ihren Bruder.
Um die erhitzten Gemüter abzukühlen, schlug Maurice vor, die Steigeisen auf Verschleiß zu überprüfen. „Hilfst du mir, Vater?“
„Später. Erst muss die Sache zu Ende gebracht werden“, stänkerte der Alte weiter, der jetzt offenbar in Fahrt kam. „Erst einmal will ich wissen, was deine Schwester dazu sagt!“
„Was willst du denn jetzt hören?“, raunzte diese schnippisch. „Im einundzwanzigsten Jahrhundert hat sich der Sinn von Traditionen verändert. Heutzutage sind sie keine Fesseln mehr und jeder hat das Recht …“
„Bitte hört auf! Ihr habt sicherlich beide recht!“, versuchte es ihr Bruder ein letztes Mal, wurde aber sofort von seiner Schwester ausgebremst.
„Lass’ gut sein, Maurice! Hier geht’s ums Prinzip. Vater sollte endlich begreifen, dass jeder das Recht auf seine eigenen Entscheidungen hat.“
„Wohlan! Dann bist du ja das beste Beispiel einer Fehlentscheidung“, spottete Urs weiter und massierte einen Krampf in seiner Nackenpartie, der ihn inzwischen infolge seiner Anspannung befallen hatte.
„Schon möglich. Aber es war mein Entschluss und ich trage die Verantwortung“, erklärte Rosanna entschieden und sah keinen Sinn mehr in einem weiteren Gespräch. Denn wie immer hörte der Vater nicht zu und wollte auch gar nicht verstehen. Sie beschloss, dass dieser Besuch der letzte gewesen war. Mochte der Alte doch in der Hölle schmoren. Was kümmerte es sie?
Eine geniale Idee
In der Ferne grollte der Donner. Eddis Lunge brannte. Trotzdem quälte er sich weiter die Via Dimlej entlang in Richtung Lej da Staz. Längst war es ihm zum Bedürfnis geworden, seinen Astralkörper regelmäßig zu stählen, denn er musste fit bleiben. Zu vieles hing davon ab. Nicht auszudenken, er würde Straffheit und Esprit verlieren. Das war sein Kapital. Schon deshalb konnte er sich trotz seiner Zugehörigkeit zur ‚Wählscheibengeneration‘ nicht schonen.
Natürlich verband er dieses Training mit einer regelmäßigen Show, wobei er einen möglichst großen Effekt anstrebte. Das begann schon mit seinem knallgelben Joggingdress und den dunkelblauen Pantalons, die seine Figur ganz besonders betonten. Verbunden mit seinem weißen Stirnband und den albernen Wadenschonern erinnerte er damit zwar an einen Papagei. Aber genau das beabsichtigte er.
Spätestens wenn er locker tänzelnd in das Parkrondell einschwenkte und mit gespreizten Beinen seine Dehnübungen vollführte – besonders gern in Gegenwart weiblicher Passanten – wuchs er über sich hinaus. Dann pumpte er mit eingezogenem Bauch wie ein testosteronstrotzender Superathlet und hätte selbst einen Mitch Buchannon von Baywatch, alias David Hasselhoff, locker ausgestochen.
Zu seinem Bedauern musste diese Show heute jedoch ausfallen. Aufgrund des nahenden Unwetters waren die Straßen wie leer gefegt. Ununterbrochen wälzten sich neue Wolkenwände heran und verdunkelten den Himmel, während er unter mächtigen Rotbuchen hindurchlief.
Eddi hatte gerade den städtischen Park durchquert und nahm den Weg zum Grydasee, als ein greller Blitz die Wolken durchzuckte. Vereinzelte Schreie fliegender Räuber, die demnächst in den Bäumen, an schroffen Abhängen oder zerklüfteten Felshängen Schutz suchen würden, zerschnitten die Luft.
Jeder vernünftige Mensch wäre jetzt umgekehrt. Nicht aber ein Mann wie Eddi Corleone. Selbst wenn sich jetzt eine Erdspalte vor ihm aufgetan hätte, brächte ihn das nicht davon ab. Schließlich war er so etwas wie ein ‚Steher‘ und das in jeder Beziehung.
Jetzt hatte er einen Abschnitt erreicht, zu dessen linker Seite eine Steilwand aufragte, bedrückend und mächtig. Mit federndem Schritt und Rasierklingen unter den Armen steuerte er sie an.
Aufgrund der nachfolgenden Geröllstrecke verlor er jedoch bald an Tempo und kam aus dem Rhythmus. Das war für seine momentane Lage symptomatisch. Aber der Rauswurf aus dem Kempinski glich einem Fluch. Niemals zuvor empfand er eine solch beklemmende Endgültigkeit. Ganz zu schweigen von der nunmehr drohenden Finanznot, woran er noch gar nicht denken mochte.
„Dannazione, cazzo4!“, schimpfte er, einen Fluch, den er auf Deutsch auszusprechen stets vermied. Wieso musste ihm der Lapsus bei dieser Ziege passieren? Bisher hatte der Trick immer funktioniert. Wurde er langsam alt? Doch sein aufglimmender wilder Zorn wurde sogleich von Weinerlichkeit erstickt.
Wie sollte es bloß weitergehen? Ohne weitere Qualifikation würde er gnadenlos auf der Strecke bleiben. Seine Talente beschränkten sich im Wesentlichen auf Keckheit und weltmännisches Auftreten. Gepaart mit dem Gespür für den rechten Augenblick und ein paar passenden Worten verstand er, sich bisher immer gut zu verkaufen. Mehr hatte er leider nicht drauf.
Dabei hatte sein Werdegang durchaus verheißungsvoll begonnen. Nach seinem Schulabschluss und einer Lehre als Verkäufer für Skiausrüstungen waren ihm das lange Stehen und die ermüdenden Kundenfragen bald zu anstrengend. (Noch heute wurde ihm übel, dachte er an den musikbeschallten und nach Reinigungsmittel stinkenden Laden zurück). Folglich schmiss er bald hin. Er fühlte sich zu Höherem berufen und war überzeugt, eines Tages noch zu Potte zu kommen.
Und in der Tat – nach einigen unsteten Jahren, in denen er sich durchs Leben schlängelte, entdeckte er ein Geschäftsmodell, das seinen Talenten entgegenkam. Der Kern bestand darin, durch entsprechendes Auftreten, verbunden mit dem nötigen Charisma und einer Portion Skrupellosigkeit, Geschäftsabschlüsse zu erzwingen, die vorrangig den Vorteil seines Auftraggebers bedienten.
Nachdem er über kurz oder lang einige Klienten maßlos übertölpelt hatte und diese ihn vor Gericht bringen wollten, zog er sich aus diesem Geschäft zurück und wechselte in die Rotlicht- und Türsteherszene. Allerdings brach man ihm schon bald darauf nach einer Meinungsverschiedenheit die Nase, sodass er dort ebenfalls das Handtuch schmiss. In der weiteren Folge fokussierte er sich auf das Hotelgewerbe.
Hier fand er wiederum, unter Ausspielung seiner Talente und von seinem Bruder lanciert, schnellen Zugang und konnte als inoffizieller Begleiter gut betuchter Gäste einen halbwegs ordentlichen Schnitt machen. Zu seinem Ärger war es damit aber jetzt auch wieder vorbei. Wenn sich nicht bald Neues fände, könnte er sich den Strick nehmen. Kein Wunder, dass er seine Sorgen zunehmend in Alkohol ertränkte.
Von Stütze konnte er weder leben noch sterben. Anderweitige Hilfe hatte er nicht zu erwarten. Seine alte Mutter lebte von einer kärglichen Rente und sein Bruder Francesco wurde von seiner desolaten Beziehungskiste erdrückt. Dabei war noch unklar, ob die beiden rothaarigen Rabauken wirklich von ihm stammten. Weder er noch seine Gefährtin (oder besser Gespielin) verfügten über eine solche Eigenschaft. Dass dieses Weibsbild nicht das Schwarze unter dem Nagel taugte, stand außer Frage. Alle Welt wusste das, nur Francesco nicht oder wollte es nicht wissen. Aber ehrlich gesagt, gönnte er ihm diesen Drachen und konnte nicht genug von irgendwelchen Hiobsbotschaften bekommen. Das half ihm für Momente über sein eigenes Elend hinweg.
Aber selbst das vermochte ihn jetzt nicht mehr zu trösten. Was würde jetzt aus ihm werden? Darüber war er ständig am Grübeln. Und was ging ihm nicht alles durch den Kopf: Angefangen von einer möglichen Bewerbung als Beratungsassistent über Schnorren am Bahnhof bis hin zu möglichen Diensten als ‚Gay‘, obwohl er längst aus der Rolle herausgewachsen war. Es schien wie verhext. Nicht einmal auf seinen Instinkt war Verlass. Wütend drosch er gegen einen Laternenmast, der daraufhin bis in die Spitze vibrierte. Hätte ihn jetzt jemand schief angesehen – er hätte ihm sofort die Fresse poliert.
Anscheinend hatte sich alles gegen ihn verschworen, selbst das Wetter. Die Wolken zogen sich weiter zu und das Gewitter schien zum Entladen bereit. Erste große Buchen ächzten im Wind. Der Sandboden zwischen