Nur eine Petitesse. Anja Gust. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Gust
Издательство: Bookwire
Серия: Die Geschichte der Sina Brodersen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753187242
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Zapfen im Vorbeilaufen Fußtritte. Jetzt grollte es schon direkt über ihm. Hastig zog er seine Wasserflasche aus dem Gürtel und nahm einen Schluck, ohne den Lauf zu unterbrechen.

      Der Wind wirbelte Laubblätter vor sich her. Ängstlich sah Eddi zu den Bergen hinauf. Die Gipfel verschwanden in einer grau-schwarzen Wolkenwand. Wenig später zuckte ein erster Blitz, gefolgt von grollendem Donner.

      Sekunden später prasselte erster Regen nieder und durchnässte ihn bis auf die Haut. Sein Speichel schmeckte nach Blut, das Herz stach unter dem Brustbein. Doch er stemmte sich eisern gegen den Wind. Noch ein kleines Stück. Er biss die Zähne zusammen und hastete weiter. Das Bodengeröll ließ ihn stolpern. Laufen, weiterlaufen, immer vorwärts, nur nicht stehen bleiben. Bald würde das Ziel erreicht sein.

      Rinnsale schossen inzwischen durch tiefe Pfade. Sämtliche Umrisse des Weges lösten sich auf. Die Umgebung verschwand hinter einer bleigrauen Regenwand. Der Boden wurde von Schritt zu Schritt weicher, aber Eddi gab nicht auf.

      Plötzlich packte etwas wie aus dem Nichts seinen Fuß und riss ihn den Hang hinab. Machtlos schlitterte er über das Geröll und rutschte mehrere Meter die Schräglage hinunter. Seine Flüche verhallten ungehört. Niemals zuvor hatte er ein solches Seitenstechen verspürt. Es war, als stecke eine Heugabel zwischen den Rippen.

      Mühsam quälte er sich wieder hinauf und setzte seinen Lauf fort. Keine hundert Meter und er hatte das Ziel erreicht. Die alte Birke am Wegesrand markierte das Ende der Strecke. Vornübergebeugt blieb er stehen und stützte keuchend die Hände auf die Knie. Wasser lief ihm in den Nacken. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals und seine Klamotten waren voller Dreck. Doch er war zufrieden. Er hatte nicht aufgegeben.

      Langsam richtete er sich auf und setzte seinen Weg im Schritt fort. Nun war es nicht mehr weit. Als er kurze Zeit später den Stadtpark erreichte und in der Via Mezdi einbog, erregte ein Schaukasten seine Aufmerksamkeit. Er trat näher heran.

      Laut Aushang beabsichtigte ein Maître de Cuisine namens Alfredo Hochstetter am letzten Freitagabend des Monats im Badrutt’s seinen neuen kulinarischen Marathon zu servieren. Spargel en papillote mit zartem Lammrücken. Anbei Pfifferlinge auf erlesenem Trüffelschaum. Das Ganze abgerundet durch einen 2016er Sauvignon Blanc und andere Delikatessen. Und, und, und …

      „Ja, ist das die Möglichkeit?“, rief Eddi aus und bekam den Mund nicht mehr zu. Das war doch nicht etwa ‚Knolle‘ Hochstetter, die alte Flitzpiepe aus Jugendtagen? Nach seinen letzten Informationen war er im Kanton Freiburg abgetaucht und hatte nie wieder etwas von sich hören lassen. Und jetzt Michelin-Sternekoch? Wie ging das zusammen?

      Einst waren sie gute Bekannte (Freunde wäre zu viel gesagt), denn Alfredo war in seinen Augen eine Schwuchtel und das konnte Eddi nicht leiden. Sie stammten aus dem gleichen Ort und kannten dort so manche Pappnase. Als der gelernte Koch auf der Suche nach einer Anstellung war, hatte ihm Eddi einen Tipp zu einem renommierten Hotel gegeben, wo eine Stelle als Koch frei geworden war. Dem vorherigen Küchenchef – ein Franzose namens Gaston – hatte man wegen Unzuverlässigkeit fristlos gekündigt.

      Nach der Freistellung ging es mit diesem Gaston steil bergab. Zum Schluss hatte seine ganze Habe aus einem alten Mantel, einer wertlosen Uhr und einem aufwendig gearbeiteten Nesmuk Messer Besteck bestanden, an dem er sehr hing. Obwohl ihm von mehreren Seiten lukrative Kaufangebote unterbreitet wurden, wollte er sich davon nicht trennen. Alfredo hatte Eddi davon erzählt und seine Verwunderung darüber geäußert.

      Da sich Knolle als sein Nachfolger dem Franzosen gegenüber verpflichtet fühlte, waren sie nach dessen Rauswurf miteinander verbunden geblieben. Aufgrund seiner Trunksucht hatte Gaston mehr und mehr die Kontrolle über sich verloren, sodass Alfredo die kostbaren Messer aus Furcht vor Verlust in Verwahrung nahm. Die Folge waren bald eigene Begehrlichkeiten.

      Wiederholt erwähnte er überaus lobend die Schärfe der Klingen und dass man damit äußerst präzise filetiere. Mit einem solchen Besteck, meinte er, könnte man die besten Menüs zaubern. Angeblich habe Gaston versprochen, es ihm später zu vererben.

      Wenig später kam der Franzose bei einem Verkehrsunfall unerwartet zu Tode. Alfredo wusste, dass er das Besteck unweigerlich verlieren würde, da das Hotel eine nachträgliche Geldforderung für etwaige Außenstände an den Verstorbenen erhoben hatte und somit einen Rechtsanspruch auf dessen Nachlass begründete.

      Das sah er aber partout nicht ein. Sofort berief er sich auf die mündliche Zusicherung des Verstorbenen, ihn als Erben zu bestimmen. Es kam zu einem Rechtsstreit, in dessen Folge er einen Zeugen brauchte. Da sprang ihm Eddi bei, allein schon, um den Kläger zu ärgern. Im Brustton der Überzeugung beeidete er, jenes Versprechen zu kennen, mit der Folge, dass Alfredo die Messer behalten durfte. Zwar zog er sich dadurch den Zorn seines Arbeitgebers zu und verlor seine Anstellung, aber, wie man jetzt sah, zu seinem Vorteil. Eddi war davon überzeugt, dass es Alfredo ohne seine Hilfe niemals so weit gebracht hätte.

      Was lag also näher, als ihn jetzt daran zu erinnern. Immerhin hatte er für ihn einen Meineid geleistet und das belastete seine Seele. Jedoch war die Vorstellung, auf diese Weise ein paar Fränkli in seine klamme Kasse zu bekommen, zu verlockend. Und siehe, schlagartig ging es ihm besser.

      Zunächst einmal musste er zu Hause duschen und sich umziehen, um die Sache dann in Ruhe anzugehen. Aber was hieß schon ‚zu Hause‘. Jene spartanische Dachkammer in einem heruntergekommenen Haus in der Via Val Roseg von der Größe eines Schrankes konnte man kaum so nennen. Obwohl er sich tief im Mietrückstand befand, war er bisher nicht hinausgeflogen, weil diese Bude momentan unmöglich anderweitig zu vermieten war.

      Schnell huschte er am Erdgeschoss vorbei, um seiner Wirtin, der alten Luise Bratfisch, nicht zu begegnen, die irgendwie immer auf ihn lauerte. Er hasste das dicke Weib mit dem aufgedunsenen Gesicht und der riesigen Oberweite. Dieser vor Bosheit dumme und skrupellose Blutsauger mit selbstgefärbtem Haar ließ keine Gelegenheit aus, ihn zu beschimpfen und zu beleidigen, weshalb er jedes Zusammentreffen tunlichst mied.

      Nachdem Eddi es geschafft hatte und sich gerade seiner nassen Klamotten entledigte, hörte er sie schon von unten keifen: „Herr Corleone? Sind Sie es?“

      Hartnäckig verweigerte er jede Antwort. Sekunden später hämmerte es gegen die Tür. „Ich weiß, dass Sie da sind! Öffnen Sie!“

      „Ich bin nackt!“, antwortete er genervt.

      „Dann ziehen Sie sich gefälligst was an!“

      „Ich denke nicht daran!“

      „Dann hole ich die Polizei!“, drohte sie unverhohlen.

      „Ist Ihnen mein Pimmel so viel wert?“

      „Jetzt werden Sie mal nicht frech!“

      Was blieb ihm, als zu öffnen. Wutschnaubend stürmte dieser Drachen herein und maß ihn von oben bis unten. „Ich denke, Sie sind nackt!“, krakeelte sie.

      „Hab’ mir was übergeworfen.“

      „So schnell?“

      „Bin eben Sportler.“

      „Sie und Sportler! Ein Betrüger sind Sie!“ Schnaufend zeterte sie im besten Schweizerdeutsch: „Und? Haben Sie mir nichts zu sagen?“

      „Machen Sie nicht so ein Geschrei“, sagte Eddi, sie genüsslich nachäffend, „Sie kriegen Ihr Geld!“

      „Wenn Sie so weitermachen, werde ich …!“

      „Ist ja gut. Ist ja gut.“ Eddi winkte ab, rubbelte sich das Haar trocken und schmiss das Handtuch achtlos aufs Bett. Danach steckte er sich eine Fluppe an.

      Wieder spulte sie sich auf: „Das geht alles in die Vorhänge!“

      „Sie haben mir nichts zu sagen!“, erwiderte er und hauchte ihr den Rauch entgegen.

      Frau Bratfisch wurde puterrot: „Das ist ein ordentliches Haus, in dem anständige Leute wohnen! Und schreiben Sie sich ein für alle Mal hinter die Ohren: Hier habe ich das Sagen. Und außerdem …“

      Entnervt starrte er aus dem Fenster. „Und außerdem habe ich im Moment keine Zeit.“