Offtext / Joggerin:
„Endlich Feierabend, jetzt ist ihre Zeit. Sie muss sofort raus aus der Bude, sonst fällt ihr die Decke auf den Kopf. Sommerlich warmes Dämmerlicht, der Park liegt verlassen da. Sie liebt diese Stille. Da ist keiner, der einen beobachtet und bewertet. Nun kann sie ganz sie selbst sein, pur und frei.“
„Ihr Atem geht ruhig und regelmäßig, ihre Schritte werden gedämpft durch das hohe Gras. Sie läuft gerne abseits der Wege, zwischen den Bäumen, dort, wo es auch am Tag schattig ist.“
„Ihre Freundinnen halten sie ja für verrückt, abends ganz alleine durch den Stadtpark zu joggen. Aber sie hat keine Angst. Oder will sich zumindest nicht von ihr lähmen lassen. Ein gewisses Risiko gibt es ja immer, das gehört zum Leben dazu. Und so läuft sie sich nicht nur den Stress des Alltags aus dem Körper, sondern auch gegen die leise Stimme der Furcht an, die wohl ein heimlicher Begleiter jeder Frau ist, die in einer Großstadt lebt...“
Genervt sprang ich auf, knallte den Schreibblock auf den Stuhl und tigerte übellaunig über das noch halbdunkle Filmset.
Verdammt, schoss es mir durch den Kopf, was wusste ich denn schon über das Gefühlsleben einer Frau?
Eigentlich fand ich das ganze Programm extrem abartig, aber mitgefangen war nun mal mitgehangen. Und der dämliche Offtext gehörte dazu. Vielleicht sollte ich mich weigern, das Drehbuch zu schreiben. Dann fühlte ich mich bestimmt weniger schuldig. Wenn ich nur irgendeine fertige Vorlage verfilmen würde, wäre ich kein voll verantwortlicher Mittäter, sondern eher so etwas wie ein ganz gewöhnlicher Erfüllungsgehilfe gewesen. Aber jetzt musste ich mir wohl oder übel eine komplette Vergewaltigungsstory aus den Fingern saugen.
Ich will deine Kreativität, hatte der Häuptling der Menschenfresser zu mir gesagt. Zuerst hatte ich mich geweigert, aber die doppelte Gage wirkte eben auch auf mich ungemein verführerisch. Trotz aller Versuche, mir den ganzen Wahnsinn schön zu reden, wusste ich genau, dass ich dabei war, einen Riesenfehler zu begehen. Ich hätte, wie geplant, in dem Moment kündigen sollen, als ich ein nettes Geldpolster auf der Seite hatte.
Doch was habe ich Idiot stattdessen gemacht? Mir dieses sauteure, dicke Protzmobil gekauft. Die Karre war zwar endgeil, leider aber auch das reinste Groschengrab. Auch wenn es sich mit meinem Selbstbild nicht vertrug, ich musste mir eingestehen, dass ich wie der Großteil der Menschheit gefangen war im Fegefeuer meiner Eitelkeit.
Na ja, was soll's, sagte ich mir. Wenn ich es nicht mache, dann macht es ein anderer.
Ich zündete mir eine Zigarette an und widmete mich notgedrungen wieder meiner gottverdammten Arbeit.
Sollte den Offtext über die Bilder vom Park nun ein Mann oder eine Frau sprechen? Besser eine weibliche Stimme, entschied ich, dann wirkte die Tonspur wie eine Art innerer Monolog. Den konnte man über das Intro legen, über die Einleitung, in der sie im Halbdunkel durch den Park joggte.
Die Außenaufnahmen am Abend vorher hatten sich ziemlich schwierig gestaltet. Ohne eine offizielle Drehgenehmigung, konnten wir natürlich kein künstliches Licht setzen. Nur mit dem diffusen Licht der Laternen und zwei mickrigen Akkuleuchten, das konnte ja nichts werden. Die Bilder waren, wie erwartet, großteils unscharfer Matsch. Und die Story war, ehrlich gesagt, auch total billiger Schrott. Sie taugte nur als Rahmen dafür, eine ebenso dämliche wie kaputte Frau wie diese Nadja in Grund und Boden zu rammeln und nach allen Regeln der Kunst fertig zu machen.
In diesem Moment meldete es sich wieder zu Wort, mein ewiges geistiges Rededuell. Einerseits und anderseits...
Einerseits war die bescheuerte Fotze doch selbst schuld. Warum machte sie auch bei diesem Scheißdreck mit? Denn auch zu einer Horrorstory wie dieser, gehören immer mindestens zwei Akteure. Und einer davon hat die unerfreuliche Rolle des Opfers, desjenigen, der das mit sich machen lässt.
Anderseits fragte ich mich zum tausendsten Mal, was zum Teufel mich nur geritten hatte, dass ich das mitmachte? Eine Gang-Bang-Killer-Story, die aus meiner Feder stammte! Abartiger Sondermüll, bei dem ich auch noch Regie führte! Ich kam mir vor wie ein Stück Scheiße.
Was ich jetzt dringend brauchte, war eine extrafette Dröhnung. Eine lange Line schönes weißes Koks.
Aber verdammt! Es war erst zehn Uhr vormittags. Und wenn ich jetzt schon anfing mich abzuschießen, dann würde ich nicht bis heute Abend durchhalten.
Ich schreckte aus meinen trüben Grübeleien hoch und ließ den dünnen Ordner fallen, in dem das peinliche Drehbuch allmählich Gestalt annahm. Diese Nadja trieb mich allmählich in den Wahnsinn.
Konnte dieses dämliche Huhn nicht ein bisschen leiser heulen? Sie ging mir mit ihrer dramatischen Gefühlsduselei mächtig auf den Sack. Bei diesem Gejammer konnte sich doch kein Mensch konzentrieren!
Ich fühlte mich hin und her gerissen. Der Ablaufplan für den Tag stand immer noch nicht, aber andererseits gehörte zu meinen Aufgaben auch die Betreuung der Darsteller. Seit Drehbeginn hatte ich alle Hände voll damit zu tun, die Frau einigermaßen bei Laune zu halten. Nach dem Überfall im Park hatte sie geheult wie ein Schlosshund. Und ich, als Frauenversteher von Beruf, fühlte mich zu ein paar tröstenden Streicheleinheiten verpflichtet und nahm sie beiseite.
Bei einem intimen Gespräch unter vier Augen deutete sie an, dass ihr etwas Ähnliches schon mal im wirklichen Leben passiert war. Dass sie wahnsinnige Angst hatte vor dem, was ihr an Szenen noch bevorstand und den Job gerne abgebrochen hätte. Da ich ihr nicht weiterhelfen konnte, schickte ich sie zur Produktionsleitung und die alarmierte wiederum den Häuptling der Menschenfresser.
Der machte ihr dann unmissverständlich klar, dass es kein Zurück mehr gab. In ihrem Vertrag stände schwarz auf weiß, dass sie persönlich dafür haftete, wenn ihretwegen die Produktion ausfiel. Allein die beiden Drehtage mit jeweils vier Darstellern und komplettem Filmteam, ob ihr denn klar wäre, was das alles kostete?
Ich beobachtete Nadja, wie sie danach mit schreckgeweiteten Augen zurück ans Set schlich wie eine getretene Hündin. Aus ihrem Gesichtsausdruck war deutlich abzulesen, dass sie sich ihrem Todesurteil ergeben hatte.
1.27 Mein Tagebuch / 12
Geschäft ist Geschäft.
Druck machen, das haben sie drauf, diese Menschenschinder von der Produktionsleitung. Ob dieser Knebelvertrag wohl auch vor einem Arbeitsgericht Bestand hätte? Daran habe ich erhebliche Zweifel.
Doch ich sage nichts. Für die Verträge bin ich nicht zuständig. Ich bin keiner von diesen Zuhältern mit der weißen Weste. Ich kann ihr nicht helfen. Ich bin eigentlich überhaupt nicht da. Ich beame mich einfach an einen besseren Ort. Ich brauche jetzt unbedingt irgendeinen starken Stoff, der dieses bohrende Verantwortungsgefühl in mir auslöscht, der mein Herz betäubt und mein sinnloses Mitgefühl mit diesem Mädel abtötet.
Ich mache hier ja schließlich auch nur meinen Job. Und die anderen vom Team kratzt das doch auch nicht die Bohne, wie diese Frau sich fühlt. Die erzählen sich amüsante Anekdoten, trinken in aller Seelenruhe Kaffee und fressen das Buffet leer, das uns die Leute vom Catering heute morgen aufgetischt hatten.
Tja, stumpf ist Trumpf. Jetzt hilft nur noch Autosuggestion. Weiche Schale, harter Kern, ich bin ab jetzt vollkommen schmerzfrei. Mich geht das Alles überhaupt nichts mehr an.
In der linken Ecke sehen wir Nadja, ein armes Mäuschen in der Falle. Sie weiß, dass sie gleich gefressen wird mit Haut und Haar. Und in der rechten Ecke das Rudel tollwütiger Straßenköter. Ihnen läuft schon der Speichel von den gierig gebleckten Fangzähnen, sie haben irren Blutdurst. Diese kleine, niedliche Nadja ist ja so ein leckerer Happen.
Gong! Ring frei zur ersten Runde!