Behutsam umschritt der Gott in Menschengestalt die Kuhle, sich nach rechts wendend, und prüfte mit aufmerksamem Blick seine Umgebung. Er trat zwischen den Fichten hindurch an den Rand der schneebedeckten Lichtung, die vor zwei Tagen noch leuchtend grün in der Sonne gelegen hatte, und umschritt sie einmal ganz, indem er sich zunächst vom Bach abwandte, also nach links. Er ließ sich Zeit. Ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen, setzte er einen Schritt vor den anderen. Er ging langsam genug, daß der Schnee an seinem grauen Gewand haften blieb und allmählich seine ganze Gestalt zu bedecken begann. Wieder fügte sich sein Aussehen so vollkommen in das der näheren Umgebung, daß es geradezu übermenschlicher Aufmerksamkeit bedurft hätte, ihn davon zu unterscheiden.
Aber die Fähigkeiten der von ihm verfolgten Gegner gingen – wenn sie auch keine Götter waren – weit über alles menschliche hinaus. Und selbst er, Faghnar, der Gott des Feuers, sollte dies einmal mehr zu spüren bekommen.
Nach geraumer Zeit hatte er die gesamte vom Wald begrenzte Talsohle umrundet, aber nicht das geringste Anzeichen einer Flucht entdeckt. Als er sich jetzt von der anderen Seite her wieder dem Ausgangspunkt seines Spähgangs näherte, schritt er direkt der Fichte zu, an deren Fuß er den zumindest des eigenen Lebens beraubten Fuchs abgeworfen hatte.
Und fand die Kette leer und in sich verschlungen auf dem Boden liegen.
Nun konnte selbst der Gott nicht mehr an sich halten, stieß einen alles durchdringenden Wutschrei aus und sank mit geballten Fäusten auf die Knie; ungläubig starrte er auf das Beweisstück seines Versagens, aber nicht lange, denn eine Spur führte von den lose übereinandergehäuften Kettengliedern fort in den Wald. Und weder handelte es sich um die Tritte eines Vierbeiners, noch ähnelten die einzelnen Fußabdrücke denen eines Menschen: jeder stammte von vier abwärts gekrümmten Klauen, die sich von einem breiten Fersballen abspreizten, insgesamt aber ließ die Fährte deutlich den aufrechten Gang erkennen. Ehe man es auch nur gedacht hätte war Faghnar wieder auf den Beinen, hatte Eisenkette und Eschenstab an sich gerissen und nahm mit Riesenschritten die Verfolgung auf.
Schnee überzog den jetzt gänzlich verlassenen Ort, diesseits wie jenseits des Bachs, verbreitete sich überall hin und begrub alles unter dem blendenden Anschein der Unberührtheit.
* * *
Der dritte Schuß blieb keineswegs ohne Folgen. Es war ein Schrei von absoluter Todesgewißheit, der den Wald erschütterte. Ihn zu hören war unerträglich. Die Stimme war die eines Tiers, und doch klang darin ein geradezu menschliches Empfindungsvermögen nach, wie das Echo eines fernen, früheren Lebens. Die Hand des Fremden zitterte, als er langsam den Bogen sinken ließ.
Sie hielt sich weiterhin an ihn geklammert und verbarg sich hinter seinem breiten Rücken. Ihre Finger gruben sich ins Fell seiner enganliegenden Kleidung unter dem groben Überwurf, die Arme um seine Hüfte geschlungen, während sie Schwindel und Übelkeit niederkämpfte. Erst jetzt nahm sie wahr, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen. Auch begann ihre Wange zu schwellen, wo sein harter Handrücken sie getroffen hatte. Es hatte keine Bedeutung.
Denn wer immer er sein mochte, er schien zu wissen was er tat, und wie der Bedrohung zu begegnen war. So ließ sie sich ziehen, als er voranschritt, in Richtung des abgeschossenen Pfeils, und sehnte sich doch in die Hütte. Der Wald war jetzt wieder so still wie nur je am Ende eines Wintertags, aber die Furcht hatte sie immer noch fest in ihrem Griff.
Und dann sah sie es. Das Blut auf der Erde, eine Lache, leuchtend im Schnee. Ihre Ausdehnung war beträchtlich, wie sie im Näherkommen bemerkte. Was fehlte, war der Kadaver, oder doch wenigstens ein zu Tode verwundeter Körper. Suchend ließ sie den Blick über den Boden wandern, aber keine Spur führte von der Blutlache weg, um sich im Gehölz zu verlieren; die einzig vorhandene Spur führte zu ihr hin, endete also mit dem tödlichen Pfeilschuß. Sie trat neben den Mann, der sich bückte, und starrte ungläubig auf den Pfeil, den er vom Boden auflas. Er blickte sie kurz an und erriet, was sie dachte.
„Das ist alles“, bestätigte er. „Mehr werden wir nicht finden.“
Seine Stimme verriet einen ähnlichen Akzent, wie sie ihn zuletzt bei den Zimmerleuten im Herbst gehört hatte. Er kam also von weit her, aus den flußaufwärts gelegenen Gauen, wenn nicht gar aus der Königsstadt. Sie musterte sein gefurchtes Gesicht, die knappe, entschlossene Miene, den grimmen Zug um den Mund, soweit sein schwarzer Bart ihn erkennen ließ.
„Jedenfalls vorläufig“, fügte er noch hinzu. „Und hoffentlich auf lange Zeit.“
„Was meint Ihr damit?“ fragte sie schaudernd.
Der Fremde schwieg einen Augenblick.
„Wenn ich das nur selbst so genau wüßte“, raunte er schließlich geheimnisvoll und rieb den Pfeil mit Schnee ab, um ihn vom Blut zu säubern. Dann ließ er suchend, mit leicht verengten Augen, den Blick durch den Wald zu ihrer Linken schweifen; ehe er zielstrebig auf einen der Bäume zulief, bedeutete er ihr zu warten, und kam gleich darauf mit dem ersten der drei abgeschossenen Pfeile zurück, den er aus einem Stamm gezogen hatte.
„Hilf mir, mein Lasttier zu finden.... dort drüben hatte ich es angebunden!“
Mit diesen Worten schritt er auf den abgebrochenen Stumpf einer jungen Birke zu, und sie folgte ihm. Der Schaft mit den wenigen, steil aufwärts gerichteten Ästen lag nicht weit davon entfernt. Offensichtlich war er noch ein Stück durch den Schnee geschleift worden, ehe er sich zwischen den Stämmen anderer Bäume verfing und der Strick sich löste. Sie packte den Fremden am Arm, als er die Spur aufnehmen wollte.
„Es dämmert schon“, gab sie zu bedenken. „Wo wollt Ihr die Nacht verbringen? Kommt in meine Hütte, sie steht nicht weit von hier!“
Der Mann zögerte.
„Wo?“
„Dort drüben“, wies sie mit ausgestrecktem Arm die Richtung, „am Fluß. Aber ihr werdet den Weg nicht mehr finden, wenn....“
„Geh!“ wandte er sich von ihr ab. „Fast alles, was ich besitze, liegt auf dem Rücken des Maultiers.“
„Aber nicht Euer Leben!“ rief sie ihm hinterher. Doch er ließ sich nicht aufhalten.
„Weit kann es nicht gekommen sein. Ich werde es finden, und auch den Weg zu deiner Hütte.“
Beklommen blieb sie zurück und sah ihn zwischen Sträuchern und Bäumen verschwinden. Wieder war sie allein. Schutzlos. Den Blicken des Waldes ausgesetzt, die nicht mit dem Tag erloschen, und die das Zwielicht eher noch schärfte. Sie setzte zu einem weiteren Ruf an, wollte sich ihm anschließen, aber es kam nicht dazu. Etwas hielt sie zurück. Ohne einen weiteren Gedanken zu verlieren, drehte sie sich um und hielt auf die vertrauten Baumsilhouetten zu, die sich aus der Einförmigkeit des Waldes hervorhoben und ihr zuverlässig den Weg zur Hütte bezeichneten.
Mehrmals mußte sie sich während des Laufens umdrehen. In ihrem Innersten spürte sie daß sie sicher und alle Gefahr vorläufig gebannt war, aber die Angst hielt sie weiter umklammert, kalt und nackt wie eine giftige Kröte, und saß ihr im Nacken wie ein quälender Alb. Die hereinbrechende Nacht trieb sie zu zusätzlicher Eile an und ließ sie alle Erschöpfung vergessen.
Als sie den Waldrand erreichte, konnte sie endlich aufatmen. Vor dem tiefer gewordenen Grau des Abendhimmels, der wie ein schweres Tuch über den Flußauen hing, hoben sich die Uferweiden ab und begrenzten den jenseitigen Rand der ausgedehnten Schneefläche. Nichts deutete darauf hin, daß sich ein Pfahlbau zwischen ihnen verbarg; er lag so gut geschützt, daß sein Vorhandensein für niemanden ersichtlich sein konnte, der nicht von vorneherein darum wußte. Mit dieser Gewißheit trat sie zwischen den Bäumen hervor, und erst jetzt wurde sie gewahr, daß der Schneefall nachgelassen hatte. Nur vereinzelt trafen die herabrieselnden Kristalle noch auf ihre bloßen Wangen, während sie auf die zusehends höher aus dem Horizont ragende Baumreihe gegenüber zuhielt. Dabei ging ihr keinen Augenblick der Fremde aus dem Sinn, der ihr mit aller Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet hatte, und der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, als sie die Hilfe am nötigsten brauchte. Wie sollte er, wenn es erst Nacht geworden war, den Weg zur Hütte finden?
Und