Kraftlos und erschöpft ließ er die abwehrbereit erhobenen Arme sinken. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Der Rabe schnarrte noch einmal von seinem Palisadensitz herunter, dann hörte er Flügelschläge, die sich nach rechts entfernten. Zitternd und unsicher ging er auf die Stelle zu, wo sich das Tier flatternd wieder niedergelassen hatte, wenn ihn sein Sinn nicht täuschte. Und fand, nachdem er einige Schritte getan hatte, die Palisadenreihe mitsamt der sie stützenden Erdaufschüttung durchbrochen.
Ein Tor war es keins, so viel konnte er gerade noch erkennen. Die größtenteils angespitzten Pfähle waren gewaltsam niedergerissen worden. Auch der massige Wall aus Erde und Geröll war abgetragen, so daß er eine keilförmige Öffnung bildete. Hadhuin drehte sich um und pfiff nach dem Maultier, das hangabwärts stehengeblieben war. Wenige Augenblicke später führte er es am Strick in die ehemalige, längst nutzlos gewordene Befestigungsanlage hinein, hie und da Steine und Holzsplitter aus dem Weg kickend. Irgendwo hinter sich hörte er den Raben aufflattern und davonfliegen.
Der Schnee erwies sich jetzt als vorteilhaft, da er ihn wenigstens schemenhaft die innerhalb des Ringwalls gelegenen Gebäude erkennen ließ: als gedrungene Schatten zeichneten sie sich vor dem in der Höhe allmählich verflachenden Hang ab, denn die weiße Decke, die ihn überzog, fing auch noch den allerletzten Rest von Tageslicht ein. Hadhuin hatte nur einen Gedanken: einen Unterschlupf zu finden, in dem er die Nacht zubringen konnte. Möglichst an einem wärmenden Feuer. Ohne zu überlegen, stapfte er auf den erstbesten der aus dem Schnee ragenden Blockbauten zu. Der Eingang befand sich gleich auf der ihm zugewandten Seite. Die Tür hing schräg in der oberen Angel, da die untere aus dem Pfosten gerissen war, und mit Mühe gelang es ihm, sie halb offen zu stemmen.
Drinnen roch es modrig und nach Schimmel, durchsetzt von irgendetwas weiterem, unbestimmbaren. Angewidert wehrte er einige Spinnweben ab, die ihm unmittelbar hinter dem Eingang ins Gesicht hingen. Während er sich mit kleinen, vorsichtigen Schritten durch den scheinbar leeren Raum tastete, bemerkte er Zugluft und versuchte, ihre Richtung zu bestimmen. Insgeheim hoffte er, die Öffnung befände sich irgendwo an dem niedrigen Dach, was sie als Rauchfang ideal gemacht hätte. Nachdem er sieben oder acht Schritte in den Bau vorgedrungen war, befand er den Boden immer noch glatt und eben, scheinbar aus gestampftem Lehm. Dem Echo seiner Schritte nach zu urteilen, schien der Raum leer zu sein, und die gegenüberliegende Wand glaubte er ebenso viele Schritte entfernt, wie er von der Türschwelle aus bereits zurückgelegt hatte. Und dann sah er es: ein kleines Rechteck, fast genau gegenüber der Tür. Als wäre es aus der Dunkelheit herausgeschnitten worden, so daß man das gerade noch wahrnehmbare Zwielicht dahinter sehen konnte. Also keine Luke oder schadhafte Stelle im Dach, durch die der Rauch nach oben abziehen würde. Dennoch, sagte ihm sein prüfender Verstand, sollte ein an der richtigen Stelle entzündetes kleines Feuer keine Schwierigkeiten bereiten.
Also suchte er sich draußen an Holz zusammen, was er finden konnte. Zunächst stöberte er im Schnee nach heruntergefallenen Ästen, und brach dann verschieden große Stücke aus dem morschen Pfahlholz. All das schleppte er eilends in das gerade erkundete Nebengebäude. Auch von dem beim Brechen der Palisaden entstandenen Splitterholz sammelte er so viel wie möglich auf. Er war weitsichtig genug gewesen, schon zu Beginn seiner Wanderung heute morgen dünnes Reisig zusammenzutragen, und mit den Bruchsplittern vermengt schien es ihm zum Feuermachen noch besser geeignet. Im Übrigen hatte er darauf vertraut, sich am zur gegebenen Zeit gewählten Nachtlagerplatz mit Scheitholz eindecken zu können, und die Stute mit zusätzlicher Last verschont.
Als er das Tier endlich von seiner Bürde befreien konnte, war es fast stockfinstere Nacht. Die Ausrüstung war mit Überlegung gepackt, und so kostete es ihn jetzt wenig Mühe, sich an die Feuerutensilien heranzutasten.
Was ihn überraschte war die Leichtigkeit, mit der es ihm gelang das zusammengetragene Holz zu entzünden. Allerdings hatte er es so hinter der Tür aufgeschichtet, daß es den Luftzug abbekommen mußte, der seine Wirkung offenbar nicht verfehlte. Als die Flammen aufzulodern begannen, fächelte er mit den Händen dicken Rauch von sich und plazierte den Vorrat an Holz für die Nacht nahe genug an den Flammen, daß es abtrocknen konnte. Dann ging er nach draußen, um die Stute zu füttern.
Er schnürte den noch etwas mehr als zur Hälfte vollen Hafersack auf und lehnte ihn an die Wand aus verschränkten Balken, rechts neben der Tür, durch deren Spalt der flackernde Lichtschein des Feuers drang. Die Stute näherte sich vorsichtig schnuppernd, mit vorgestrecktem Kopf, konnte sich aber scheinbar nicht zum Fressen entschließen. Stattdessen scharrte sie kurz mit dem Huf und schüttelte mit einem mißbilligenden Schnauben die Mähne. Verwundert ließ sich Hadhuin ein paar Hände voll des Getreides durch die Finger gleiten, roch daran, prüfte die Körner mit den Lippen, konnte aber nichts absonderliches feststellen. Das Maultier hatte sich derweil abgewandt, pflügte mit geblähten Nüstern über den Boden und begann schließlich Schnee zu fressen, wobei es sich mehr und mehr in die Dunkelheit entfernte. Hadhuin schaute ihm hinterher, kratzte sich den Nacken und betrat dann kopfschüttelnd seine Nachtbehausung.
Er verschloß nach bestem Vermögen die prekär in ihrer Angel hängende Tür und stützte sie mit einem kräftigen Ast. Dann ließ er sich, endlich! auf die am Boden ausgebreiteten Felle nieder und seufzte mit einem Gefühl unaussprechlicher Dankbarkeit. So blieb er eine Weile mit untergeschlagenen Beinen sitzen und rieb sich die durchgefrorenen Hände, eher er sich mit Heißhunger über sein Nachtmahl hermachte.
Sein Proviant war ansehnlich; allein was von dem Eber an gebratenem Fleisch übrig geblieben war, würde noch für viele Tage vorhalten. Gierig begann er eine Portion zu verschlingen, die er zum Anwärmen am Rand des Feuers auf sein umgestülptes Kochgefäß gelegt hatte. Dazu brach er sich große Stücke Brot aus einem ebenfalls bereitgelegten Laib und stopfte sie hinterher. Hin und wieder nippte er am Schafsbalg und gedachte seines Beschützers, des Feuergottes, von dessen Wahrhaftigkeit er mittlerweile wieder überzeugt war. Aller Groll war verflogen, und er empfand aufrichtige Reue über seine eigene Wankelmütigkeit.
Der Geschmack der vergorenen Milch war ihm innerhalb kürzester Zeit lieb geworden. Dabei blieb es, auch nachdem er gestern abend zum ersten Mal gesehen hatte, wie die Fermentierung vonstatten ging. Er traf gerade mit Faghnars Hilfe die letzten Reisevorbereitungen, oben in seinem Felsversteck, als dieser den Schafsbalg nahm, ihn öffnete und kräftig in die Milch spuckte.
Es war die letzte gewesen. Hadhuin hatte sie mit Mühe abgemolken, und es war klar, daß es so schnell keine mehr geben würde. Zumindest nicht, ehe das Tier erneut gefohlt hätte. Faghnar verschloß den Balg wieder und begann ihn zu schütteln. Dabei hatte er einmal mehr diese Miene aufgesetzt, die Hadhuin schon so gut kannte: der Blick leicht verengt, dazu das vage zu erahnende Kräuseln der Lippen unter dem stahlgrauen Bartgestrüpp, und ein Blitzen, das zu verkünden schien: Ich weiß, was gerade in dir vorgeht, Junge! Schließlich legte er den Schafsbalg nahe am Feuer ab und sagte:
„Morgen früh binden wir ihn dem Maultier so auf, daß er auf einer seiner Flanken zu liegen kommt, und decken ihn gut zu. Wenn die Milch während des Marschs tüchtig geschüttelt wird und nicht zu sehr abkühlt, hast du morgen abend wieder deinen gewohnten Schlaftrunk.“ Hadhuin verspürte ein frostiges Kribbeln, daß sich von der Schulter bis an den Fersballen zog. Als wäre seine ganze linke Körperhälfte von einer Schicht Raureif bedeckt.
So ging es ihm jedesmal, wenn er diesen Blick ertragen mußte.
Er erwachte im Morgengrauen von einem Pickgeräusch, draußen vor der Balkenwand. Ohne weiteres konnte Hadhuin bestimmen, wovon es verursacht wurde, nämlich von einem Schnabel, der in kurzer Abfolge in eine große Menge Getreidekörner stieß.
Er öffnete langsam die Augen und blickte in Glut und Asche. Dünner Rauch stieg daraus auf. Ein verkohlter, leise vor sich hin glimmender Palisadenstumpf ragte dicht an die Feuerstelle heran. Hadhuin hatte den massigen Pfahl so gelegt, daß er zum Brennen nachgeschoben, und das Feuer zugleich vom Boden her mit kleineren Scheiten aufgefüttert werden konnte.
Er stemmte mit dem rechten Ellbogen den Oberkörper halb in die Höhe, gähnte und streckte sich ausgiebig. Obwohl er geschlafen hatte wie ein Stein und sich frisch