Eine alte Gubener Freundin meiner Mutter, die ich dort '63 noch kennenlernen durfte, hatte mir zum achten Geburtstag ein Tagebuch geschenkt, ein Tagebuch mit Schloß und Schlüssel. Ein Junge hat seine Geheimnisse, und vor allem: er darf sie haben. Meine waren so geheim, daß ich irgendwann die Ränder mit Uhu bestrich.
Kann sein, daß der Herbstmarkt auch '73 noch über mehrere Tage ging. Das entscheidende Datum ist der Donnerstag, kurzum, der 4. Oktober. – Bowie. Let's spend the night together. Dazu(?) "onaniert", am Herbstmarktabend, und laut Urtagebuch "sehr erhitzt" danach. Den oktoberkühlen Gesundheitstrunk, Möhre plus Rote Bete, in wenigen Zügen hinuntergestürzt. Sogleich eine leichte Übelkeit, begleitet von leichtem Schüttelfrost. Und doch, so schnell, wie's gekommen war, ging's auch wieder vorüber, und ich gegen acht auf den Markt.
- "Ich genoß einen Abend flüchtigen Glücks und voller schöner Illusionen. Es gab, wie im Vorjahr, wieder eine Schlägerei. Es war alles sehr primitiv." Es wurde übel mit der Übelkeit. Ich mußte mich abkühlen, ruhiger werden, ging rüber in den Park. Doch es wurde nicht besser, im Gegenteil, es steigerte sich zu einer Panikattacke mit starkem Zittern und Atemnot, samt der Übelkeit also zu nicht weniger als den typischen Vorboten eines Herzinfarkts, dem Gleichwert, ja, vor allem doch für die "Onanie": erhöhter Puls durch Sport oder körperliche Arbeit, das war ohne Frage gesund, das brachte den gesamten Kreislauf im Schwung, doch Herzschlag 120 oder höher im Liegen und bei eben diesem Tun, das konnte ja nur schädlich sein, von den sündigen, weil vorzugsweise homosexuellen Gedanken hierbei erst gar nicht zu reden. Und so "gelobte (ich) dem Herrn, mich zu bessern. Heute kam mir die GROSSE ERLEUCHTUNG, daß alles Irdische vergänglich und schlecht ist, und das nur das Geistige zum Heil führt. Ab jetzt begann mein großer Kampf gegen das Böse, den ich aber meistens verlor."
Ich beruhigte mich nach dem Gelöbnis rasch und ging zurück zum Markt. Der, der mich anfangs zum Schulbus begleitete, griff mir mit einem seiner Brüder lachend am Rande der Autoscooter von hinten zwischen die Beine. Im Normalfall nur ein Bubenstreich und folglich keine Aufforderung; das aber nicht überprüft zu haben... ich tadelte sie und scheuchte sie fort.
Der Jom-Kippur-Krieg. Kommt also doch schon jetzt die Wende, das Ende dieser alten Welt? Die befand sich wohl tatsächlich an der Schwelle zum Atomkrieg, das aber nicht zum ersten Mal. "Ich mußte das Warten lernen."
- Oder eigentlich nur, die Schriften Freytags mit der gebotenen Sorgfalt zu lesen: Das Ende der alten, sündigen Welt ist nicht Unter- , sondern Übergang; zwar werden sich in den letzten Tagen Kriege und Katastrophen häufen, doch wird diese Drangsal die Menschenfreunde immer populärer machen, und schließlich wird ihr Weltallgesetz in vielen Ländern zum Staatsgesetz. Dann aber ist das Königreich Gottes auf Erden in greifbare Nähe gerückt; die "Raf" sah das alles, so denke ich mal, vom Prinzip her nicht wesentlich anders.
- Die "Kinder Gottes" mit ihren "Holy Holes"... auch in Nordstadt verteilten sie ihre Traktate, doch eine wirkliche Alternative... nein, das war eine Sekte, allein schon wegen der Sexgeschichten. Ein religiöser Hippie, ohne Sex, ohne Drogen, doch nach Möglichkeit ohne die Kurzhaarfrisur von Mahavishnu John McLaughlin... vielleicht sollte man sich nach Sikkim begeben, dort auf das Ende der Welt zu warten. Und doch war ich von der Verträglichkeit (verwestlichter) östlicher Religion mit der Menschheitsbotschaft des Sendboten Freytag nicht wirklich überzeugt, obgleich ich auf der anderen Seite dessen Worte im Andachtsbuch "Himmelstau" nicht selten gar "schockierend" fand. Doch wie ich mich auch entscheiden sollte – es konnte so oder so nichts dran ändern, "daß die alte Zeit vorbei". – Und Nostalgie ja ohnehin der Trend im Herbst '73, wenngleich auch der meinen, wie die Klugschwätzer sagen, "diametral entgegengesetzt"...
- Der Sturm: kein Vergleich zum Vorjahrsorkan, und die "Welt" fegte der nun schon gar nicht hinweg. "Ich meditierte bei Bier und Uriah Heep bei Schummerbeleuchtung." – Eine Flasche, mit Mühen. Ich studierte den "Island"-LP-Katalog, auch musikalisch ernster zu werden. Ernsthafter noch als John McLaughlin konnten aber höchstens noch King Crimson sein, die Band mit dem neuen Island-Album "Lerchenzungen in Aspik"...
Dezember '73, die Ölkrise. Die Zeiten hätten sich geändert, sagte mir der Juniorchef, Lehrlinge finde er überall, ich könne jederzeit gehen. In meinen finstersten Gedanken schlich ich mich ins Chefbüro, am Tischfeuerzeug den Flammenregler bis zum Anschlag hochzuschrauben, dem Tischfeuerzeug aus Jaspisstein.
Wieder nervöse Herzbeschwerden; im Wartezimmer des Nordstädter Arztes Schriften der Zeugen Jehovas und "Das Beste aus Reader's Digest", im Doppel womöglich billiger. Zeuge war der Arzt wohl kaum, trug er doch Koteletten. "Club of Rome", die "Grenzen des Wachstums" zugunsten des "Wachtturms", das ganze Akademikervolk bekam das ja gar nicht mit. Auch das linke Spektrum jetzt sektenhafter; meine K-Gruppe wurde die Kirche.
Im Wartezimmer auch die "Neue Revue", Ahnherrin aller Law-&-Titten-Magazine. Ein Leitartikel von Kurt Biedenkopf und somit ein weiterer Beweis für die Gottlosigkeit der CDU. Ein gutes Ergebnis beim "Mensa"-IQ-Test im Wartezimmer-"Reader's-Digest"-Heft. Nur daß eine eckige BMW-Doppelniere allen Ernstes ästhetischer sei als die damals noch übliche runde... wäre ich ein Ästhet gewesen, hätt es wohl fast zum "Genie" gereicht.
In Nordstadt eine Kleinbildkamera gekauft. Ich beneidete den ehemaligen Mitschüler aus der Parallelklasse, der seine Kaufmannslehre in diesem Fotogeschäft absolvierte; schon als Kind habe ich Fotoprospekte geliebt und kannte bald schon die wichtigsten Marken. Warum meine Eltern nur diesen Agfa-Aluminium-Plastik-Rollfilmapparat ohne alles außer Sucher, Auslöser und Filmtransporter besaßen, obgleich doch meine Mutter vor dem Krieg in einem Fotolabor gearbeitet hatte... gewiß, besser an der Einrichtung als am Essen gespart, aber... egal. – Sonntag für Sonntag wünschte man sich bei jedem nahenden Mofageräusch, wäre es doch nur Hans; ein stilles, indirektes Gebet, als direktes Gebet so lästerlich wie im Krieg eine Segnung der Waffen.
Bücher für die Berufsschule; ich sammelte das Geld ein und machte die Bestellung. Proben in der Kirche für ein Weihnachtsanspiel mit nicht geringer Sozialkritik. Bei einer Schneeballschlacht das Portemonnaie verloren samt Büchergeld und Monatskarte; mir blieb also gar nichts anderes übrig, als am nächsten Abend krank zu werden. Außerdem hatte ich mein Lehrlingsberichtsheft immer noch nicht, wie längst angemahnt, auf den aktuellen Stand gebracht. Und so lag man dann, "im Grunde gesund", im Bett und hörte Ziggy Stardust und hoffte auf nichts so sehr wie aufs Ende des fragilen nahöstlichen Waffenstillstands.
Ein altgedienter kirchlicher Mitarbeiter brachte mir das Portemonnaie zurück. Helle Aufregung und tadelnde Worte. Wenigstens nun wirklich krank.
Zehn Tage Urlaub. Silvesterbowle. "Gegen zwei Uhr nachts ging ich – leicht angeheitert – ins Bett. Ich war darüber sehr enttäuscht, und ich schämte mich. Ich bat den Herrn um Vergebung und las noch etwas in der 'Göttlichen Offenbarung'." – Die weit größere Offenbarung: Du nimmst dich wahr, du weißt um dich selbst. Und: wenn du dich mit 16 so wahrnehmen kannst, wie solltest du dich als Erwachsener dann noch irgendwie anders wahrnehmen können?...
Eine Vorbereitungsfreizeit für künftige "Helfer" in Hahnenklee-Bockswiese, wer's nicht weiß, ein Kurort im Harz. Die erste Nacht ein Notlager, ein Sofa in einem Gruppenraum, wieder mal Atemnot, wohl die Höhenlage, was aber dann erst in Sikkim?... – "Eines Nachmittags, besser, in der Mittagspause, trieb ich es mit Hans auf dem Bett. Nachher fühlte ich mich saumäßig." Zumal die ganze sündige Zeit die Bibel auf unserer Bockswiese lag. Ich kann aber nicht wer weiß was berühren und mit diesen Händen die Bibel dann, zudem noch Kircheneigentum, so reinlich Hans auch war, ja, fast schon übertrieben reinlich, gleichsam menschenfreundlich reinlich, und das ja auf der Realschule