Seit London gibt's zum Frühstück Tee, und diesen stets mit Milch. Im Hamburger Bahnhof ein toupierter Mann; wie fanden wir das lustig.
Durchschnittsnote 2,6. Das aber hat mir ja keiner gesagt, daß man auch mit Mittlerer Reife bei halbwegs noch gutem Notendurchschnitt auch ohne Französisch... – Nur: hätt ich's denn auch getan? Und: hab ich's vielleicht nicht mal doch gehört?...
- "Du bist zu Höherem berufen!": Frau Bergmanns Reaktion auf meinen künftigen Lehrberuf.
Auch der Musiklehrer schon kurz vor dem Ruhestand; ein paar Takte auf dem Schulflügel erst, dann ein paar Takte Klassikplatte, dann endlich Rock und Pop; Elton Johns bluesige Erste, Jethro Tull, die Stones und sicher noch vieles andere mehr. Jedenfalls ab der Neunten; Blockflöte in der Achten, in Ruhrstadt nur Singen und Noten, und freilich: mehr Singen als Noten; wenigstens "Starman" durchgeboxt, "Suffragette City" war ihnen lieber, und der Lehrer horchte jedesmal auf, lächelnd, selig, ja, gleichsam erlöst bei den zwei, drei Takten Streichorchester am Ende von "Thick as a Brick". Ich hatte einem der Progressiven nach wenigen Tagen "Bourée" verkauft, eine Mark, vom Grabbeltisch, noch das alte, "Pre-Island"-Island-Logo, womöglich für 50 Pfennig nur, und rutschte mir bei der Übergabe aus der Hülle und fiel auf den Schülerstuhl, die Stühle schon ergonomisch geformt, und der Progressive fast wütend schon, zumindest sagte er: "Paß doch auf!", und das Gros meiner Singles auch damals schon, nun, jedenfalls nicht meine Lieblingsmusik; "Starman"... sie fanden es schlagerhaft, zumindest kommerziell, und freilich, es war keine Island-Platte, ich war nicht der Typ für Island-Platten, nicht mal für Procol-Harum-Platten, nicht mal für Cat-Stevens-Platten, für Island- oder gar Vertigo-Platten war ich halt schlichtweg zu fett, und Bowie mit Sicherheit schwul, und hätten wir richtig Noten gelernt und Rock und Pop vor den Ferien mal, "School's out" von Alice Cooper zum Beispiel, "Warner Brothers", sechziger Jahre, US-Kommerz-Unterhaltungsfilme...
Die letzten Bundesjugendspiele. Ich griff mir Hans und nahm ihn mit auf die große, geräumige Altbautoilette, als wär's das letzte Mal mit ihm im ganzen, nein, nicht weiteren jetzt, sondern, man wußte es: restlichen Leben. Der Abschlußgottesdienst in der Klosterkirche, unter Mitwirkung der nun Mittelgereiften, und freilich auch unter meiner.
Ein Stechen in der Nierengegend, mal wieder ein Moped angetrampt. Trotzdem ins Wendener Freibad gegangen, das eigentlich nur ein Staubecken ist, permanenter Zu- und Ablauf, demzufolge ungechlort, dementsprechend kühl, der Boden aus feinem Sand, der im Schwimmerbereich immer algiger wurde und das Wasser zunehmend trüber machte. Hans tauchte vor mir ab, was mir ja nun leider nicht möglich war, noch eine freilich rein physische Sache, das Loch im rechten Trommelfell.
- Das muß im konfliktdurchzogenen Frühjahr des Frankreichjahrs gewesen sein, als ich mal ausnahmsweise vergaß, meine Geldbörse mit in die Klasse zu nehmen. Das war halt damals noch nicht so Brauch, daß die Schüler ihre Jacken mit ins Klassenzimmer nehmen oder heute vielleicht sogar müssen. 20 Mark, fürs Fotogeschäft, in Wenden gab es ja nun mal keins. Das Portemonnaie mit der Monatskarte hatte der Dieb mir wohl gelassen, obwohl, mit Bestimmtheit weiß ich's nicht. Dem Schulbusfahrer schwante nichts Gutes: "Georgie, Georgie, kommst du nach Hause..." – das war dann halb so wild. Dieser Bus fuhr relativ selten, ein Büssing aus den Sechzigern mit schrägen, gerundeten Seitenscheiben, so ähnlich wie bei den Greyhoundbussen. – Ein Ausnahmefall, und der Diebstahl jetzt ein weit größerer noch als der Greyhound-Büssing. So bitter dem "Ernst des Lebens" verpflichtet waren sie an dieser Realschule nicht, daß auch nur einer der ihnen Anvertrauten... – wenn das man alles so einfach wär...
5. Gesang: All things must pass. Love, Devotion, Surrender.
Ein Wolljackett mit Hahnentritt. Um 6.44 Uhr nach Nordstadt, der Pendler- und Gymnasiastenbus. Erster Tag. Ablage. Geht so. Zweiter Tag. Geht schon weniger. Dritter Tag. Geht nicht, und ich nicht mehr hin. Jede kurze Nacht ein Ruhrstadt-Traum. Zum Glück auch abends noch Badewetter, nur leider nicht für Hans. Der einzige, der in Frage kam, war ein kleiner Pummeliger; den kannte ich noch aus Konfirmandentagen. Im Becken hin und wieder an seiner Badehose gezupft. Mittels Augenkontakt alles klargemacht, also raus und Richtung Umkleideraum. Wir waren schon in der Klokabine, da sollt ich ihm erst mal ein Bier spendieren, ein Bier für eine Mark. Dann eben nicht.
Einzeltitel: All the young dudes, Ensemble: Mott the Hoople. So sinnlich, ja, man kann sagen, so schwul, wie ich's bislang nur von Bowie kannte, und so war es dann ja auch. Das Poster aus London direkt überm Bett: Netzstrümpfe, Minirock, Akustikgitarre. Wäre es das gewesen, wo er Mick Ronsons Saiten leckt... Im Grunde konnte er sonstwas lecken; ich war sechzehn, da fahren andere Moped, gehn in die Disco, schleppen Mädels an und ab, besaufen sich, und ich...
Der Abschlußball mit Live-Ensemble; die Klassenfete im Herbst '71 mit Schallplatten war um Längen besser. Eine deutsche, fast Porno-Version von "Je t'aime", und die Schüler lachten, die Eltern lachten, die Lehrer, selbst Rektor Lüders lachte, geschlagen mit einem Ford 15 M und seit kurzem noch mit der 9 A.
Meine Eltern blieben den Feten fern. Irgendwann in diesen Jahren, und das ohne besonderen Grund, fielen entsprechende Anreden weg. Auf Geburtstagskarten und Muttertagskarten schreibe ich "Liebe Mutter"; jetzt wieder Anreden einzuführen, wäre irgendwie peinlich, gekünstelt.
Berufsschule statt Realschule. Statt Postbus am Mittag Bahnbus am Abend, ausnahmslos die Sechziger-Busse mit dem besagten Heckflossenhauch. "Auch wenn Sie immer nicken, kriegen Sie eine Sechs, wenn Sie nicht..." – Der Buchführungslehrer, und gleichsam die Summe all dessen, was mir Nacht für Nacht von den Schrecken der Ruhrstädter Volksschule träumte. In – BWL? – ein recht sympathischer Sozialdemokrat. Zwei oder drei aus meiner Realschulklasse; die fanden das alles völlig normal, Lehrjahre sind keine Herrenjahre.
Vermutlich mit Beginn des neuen Schuljahrs konnte ich in Norddorf dem Arbeiterpostbusgedränge entrinnen und in einen Reiseschulbus umsteigen, wohl vornehmlich für die Oberschüler. "Bauer, dein Feind ist der Kapitalismus! KPD/etc. für Sozialismus": ein Scheunentorspruch auf dieser Strecke. "Aladdin Sane": You look at your watch, it says nine twenty-five, and you think oh God I'm still alive. Nicht unbedingt Bowies Meisterwerk, hart, für meinen Geschmack zu hart, doch gerade das den Umständen angemessen im Gegensatz zum sinnlichen "All the young dudes".
Lou Reeds "Walk on the wild side", von Bowie und Mick Ronson produziert. Das riecht noch heute nach Sommer '73, nach Bautenschutzmitteln und Estrichasphalt. Der wurde in schwarzen Kesseln zu den Kunden transportiert; wenn die Kleinlaster mit diesen Anhängern dran mein Klapprad überholten, sahen sie wie rückwärts fahrende Dampfloks aus, und ich fragte mich stets, was das wohl sei; im Ringlokschuppen auf dem Weg zum Bahnhof zumindest bis '74 noch rückwärts eingestellte Tenderloks.
Die Transitstrecke wurde Anfang September gesperrt für den "zivilen Durchgangsverkehr", an der Schranke anfangs ein Wachmann. Als sie diesen wieder abgezogen hatten, bin ich mit meinem Vater dann doch noch mal ins nun verbotene Pilzparadies. Eine Militärstreife hielt uns an; mein Vater grüßte soldatisch korrekt mit seinem letzten Dienstgrad Oberleutnant der Kriegsmarine, was der Streife sichtlich imponierte. Den "Platz" verlassen mußten wir trotzdem.
- "Goodbye yellow brick road, back to the howling old owl in the woods, hunting the horny back toad"… eine Eule ist mir in den Wendbergen leider kein einziges Mal begegnet, was wiederum gut für die Kröten war, und "horny" war ich selber. Und doch: This boy is too young to be singing the blues. Und, da wir grad bei den Kröten waren, auch keine für Elton Johns neue Doppel-LP, Geld kam ja schließlich erst Ende des Monats, 275 DM brutto im ersten Lehrjahr, und auch nicht Paul Simons zweite Solo-LP; die brachte im Norddorfer Reiseschulbus ein Oberschüler seinen Schulfreunden mit. – Oberschüler. Die haben Kultur, die haben Niveau, die duschen vermutlich sogar jeden Morgen, man sah es schon an der Brille des Gymnasiasten mit der Paul-Simon-LP: keines jetzt dieser modernen Gestelle mit dem Piloten-Doppelbügel; silbern zwar, doch mit einem Bügel. Seit langem schon stach