Kindertage. Winfried Schöder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Winfried Schöder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844263817
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kroch sie, inzwischen ebenfalls auf allen Vieren, diesem immer weiter nach. Wir anderen, Dora, die zweitälteste, Lotte, Birgit, die vierte und ich, standen unten im Haus an der Treppe und kommentierten das Ganze und gaben kluge Ratschläge.

      Dabei entdeckte Lotte, dass kein Schloss in der Tür zur Treppe war. Um dies anschaulich zu machen, steckte sie ihren Zeigefinger in das dafür vorgesehene Loch, sodass der Finger gerade noch vorne heraus schaute. In diesem Moment hörte man von oben einen kurzen, spitzen Schrei, dann splitterte und krachte es, vielleicht war die Reihenfolge auch umgekehrt, und meine Schwester Rosa kam mitsamt dem Kätzchen von oben durch die ver-faulten, alten Bretter geflogen und berührte dabei den Finger von Lotte.

      Die Katze blieb unverletzt und sauste verängstigt um die nächste Ecke. Da die alten, morschen Bretter den Auf-schlag milderten, kam Rosa mit ein paar blauen Flecken und dem Schrecken davon. Lotte hatte einen dicken Finger.

      Und ich hatte meinen Spaß!

      Natürlich bedauerte ich meine Schwestern auch ein bisschen!

      Da sich das Leben zunehmend normalisierte, fingen auch die Pflichten wieder an. Flüchtlingskinder mussten jetzt auch wieder zur Schule gehen. Inzwischen war ich sechs Jahre alt geworden und war mit dabei.

      In dem Dorf, in dem wir wohnten, gab es keine Schule. Er bestand nur aus ein paar Höfen mit wenigen Ein-wohnern. Unsere Schule befand sich in der Nachbar-gemeinde und war eine sogenannte Zwergschule. Sie bestand aus einer Klasse. Alle acht Klassenstufen in einem Raum! Ich ging mit allen meinen Schwestern in die gleiche Klasse. Mit einem Lehrer. Einem bayrischen Lehrer. Am Anfang haben wir nicht viel verstanden. Weder unsere Mitschüler noch unseren Lehrer, obwohl dieser sich redlich bemühte, sich seinen neuen Schülern gegenüber verständlich auszudrücken.

      Die einheimischen Schüler waren da viel weniger bemüht, nannten uns „Saupreißn“, was ich zuerst gar nicht als Beleidigung verstand, und sprachen weiter in ihrem, für uns fast unverständlichen Dialekt.

      Der Nachbarort war ungefähr zwei Kilometer entfernt. Wir mussten natürlich jeden Tag hin und zurück laufen. Von Schulbussen keine Spur. Das Hauptverkehrsmittel auf dem Land war damals das Pferdefuhrwerk. Wir hat-ten natürlich keines. Wir hatten eigentlich nichts, nicht einmal richtige Schuhe. Wir gingen immer barfuß, auch zur Schule. Bis es zu kalt dafür wurde.

      Wir mussten auf unserem Schulweg ganz dicht am Nachbarhof vorbei, wahrscheinlich sind wir sogar ein bisschen über den Hof gelaufen. Es war ein Bauernhof wie im Bilderbuch. Man hörte es grunzen und schnattern, quaken und gackern. Auf der nahen Wiese sah man braunweiße Kühe im Gras liegen oder stehen und mit der ihnen eigenen stoischen Ruhe wiederkäuen.

      Wenn man um die Mittagszeit vorbei kam, konnte man die Familie vor dem Essen beten hören. Verstanden haben wir davon allerdings kein Wort!

      Alles war eigentlich wunderbar.

      Aber offenbar gefiel es dieser Bilderbuchbauernhoffami-lie nicht, dass ein paar Flüchtlingskinder ihren Hof als Abkürzung benutzten. So ließen sie eines Morgens ihren großen Schäferhund von der Leine.

      Von dem Tage an war unser Schulweg ein paar hundert Meter länger. Es hat uns aber nicht geschadet, wir sind nur zäher und schneller geworden.

      Und meine Fußsohlen dicker!

      Gebetet haben sie wahrscheinlich immer noch!

      Jeder kennt die Eiszeit, die Bronzezeit oder die Steinzeit.

      Wir hatten eine Eierzeit!

      Ganz für uns allein!

      Außer den vielen Katzen hatten wir gelegentlich noch andere willkommene Tiergäste auf unserem Hof. Dazu gehörte eine große weiße Hühnerfamilie, die unsere fast leere Scheune, in der nur ein paar alte, halb verrottete Strohballen herumlagen, als ihr Nest entdeckt hatten. Sie legten auch fleißig Eier.

      Selbst wir ahnungslosen Stadtmenschen erkannten sofort die Chance, die sich uns da bot. Seit langer Zeit hatten wir keine Eier mehr gesehen, geschweige denn gegessen. Auf der Flucht hatte ich mal eins gegessen. Eine Bäuerin hatte es uns geschenkt, als sie hörte, dass ich Geburtstag hatte. Jetzt wurden sie uns frei Haus geliefert. Wir empfanden es als Geschenk des Himmels. Wir haben nicht lange über Recht oder Unrecht nachgedacht, son-dern das Geschenk angenommen und die Eier gegessen. Normalerweise ernährten wir uns hauptsächlich von Mehl, Brot und Wasser. Dazu kam alles, was wir in der Natur fanden. Beeren, Pilze, Brennnesseln als Spinat-ersatz und verschiedene Kräuter für Tee. Löwenzahn-blätter waren als Salatersatz sehr beliebt. Nach und nach kannten wir jede essbare Pflanze.

      Trotzdem machten wir ständig eine unfreiwillige Fasten-kur.

      Wir hatten immer Hunger.

      Satt sein kannten wir gar nicht.

      Jetzt gab es plötzlich Spiegelei, Rührei und Eierkuchen. Doch so schnell der Segen gekommen war, war er auch wieder weg.

      Obwohl wir niemandem etwas davon erzählt haben, muss es unserem Nachbarn, dessen Hühner es wahrscheinlich waren, doch zu Ohren gekommen sein. Er erzählte überall herum, das wir seine Hühner, wenn wir sie schon nicht gestohlen, so doch zu uns gelockt hatten.

      Lockt mal Hühner ohne Futter!

      Als der Bauer sie zurückgeholt hat, ist er mit erhobenen Fäusten auf meinen Bruder, der alleine zu Hause war, los gegangen. Er konnte sich gerade noch ins Haus retten.

      Unsere Hühnerfamilie waren wir nun los.

      Wahrscheinlich hat er unsere liebgewonnenen Eierliefer-anten eingesperrt oder geschlachtet. Auf die Idee, dass wir unsere gefiederten Mitbewohner auch essen könnten, sind wir bezeichnenderweise überhaupt nicht gekommen. Da hätten wir sie ja töten müssen!

      In der ganzen Zeit, in der wir noch da wohnten, hat sich kein Huhn mehr bei uns blicken lassen.

      Das war das Ende unserer Eierzeit.

      Bestimmt das kürzeste aller Zeitalter!

      Dann wurde es kälter, der Winter kam. Für mich war nun schulfrei. Ohne Winterschuhe keine Schule, so ein-fach war das.

      Unser Leben spielte sich fortan hauptsächlich in einem Raum um den einzigen kleinen Ofen herum ab. Das kann man wörtlich nehmen, denn einen Meter vom Ofen ent-fernt war es bereits kalt. Am besten kam man zurecht, wenn man sich laufend um sich selbst drehte. Wie am Spieß.

      Winterkleidung hatten wir kaum, also sind wir nicht viel nach draußen gegangen. Wenn es schneite, zog es uns Kinder natürlich auch ohne richtig warme Schuhe ins Freie, um Schneemänner zu bauen oder uns mit Schnee-bällen zu bewerfen. Anschließend haben wir uns dann ganz schnell wieder um den Ofen versammelt, uns gedreht und dabei trocknen lassen.

      Wir waren die einzigen Flüchtlinge im Ort. Nachbars-kinder kamen nicht zu uns. Wir waren unerwünscht und das gab man uns dadurch zu verstehen, indem man so tat, als wären wir gar nicht da. Zum Glück waren wir selber genügend Kinder. Langeweile gab es nie. Bei uns war immer was los.

      Es wurde Weihnachten auf dem Bauernhof.

      Große Vorbereitungen gab es nicht, denn da war nichts vorzubereiten. Es gab weder Weihnachtgebäck, noch eine knusprige Weihnachtsgans oder Geschenke. Das einfache karge Essen unterschied sich nicht von dem anderer Tage.

      Ich erinnere mich an eine sehr kleine mickrige Fichte, die spärlich mit Lametta geschmückt war. Außerdem hingen an wenigen Ästen ein paar Äpfel und Nüsse.

      Unsere Weihnachtsbäume waren trotzdem immer die schönsten! Davon waren wir fest überzeugt.

      Diesen Heiligen Abend werden wir aber trotzdem nie vergessen.

      Meine Mutter las gerade etwas vor und wir lauschten an-dächtig, als plötzlich an eines der mit dicken Eisblumen verzierten Fenster geklopft wurde. Wir sind alle sehr er-schrocken. Keiner konnte sich vorstellen, wer an diesem Abend etwas von uns wollte.

      Wir kannten hier niemanden.

      Durch die gefrorenen Scheiben konnte man nichts sehen. Ängstlich schauten wir uns an. Im Zimmer wurde es still.