Ich habe fast nie was erwischt.
Außer blaue Flecke!
Meine ersten Fremdsprachenkenntnisse stammen aus dieser Zeit. Bei den Kämpfen um Schokolade und Kau-gummi lernte ich von meinen bayrischen Konkurrenten die ausdruckstarken, mit schmerzhaften Stößen bekräf-tigten Worte: „Du depperter Depp, du depperter“.
Meine Mutter hat nicht sofort verstanden, was damit gemeint war.
Ich schon!
Bei einem anderen Erlebnis in dieser Zeit stand seltenes Obst im Mittelpunkt.
Mein Vater war akademischer Bildhauer. Künstler waren in dieser Zeit nach dem Krieg keine sehr gefragten Leute. Seine zeichnerischen Fähigkeiten, verbunden mit englischen Sprachkenntnissen, sollten sich aber positiv auf unseren kargen Speisezettel auswirken.
Hauptsächlich die amerikanischen Offiziere ließen sich gerne von ihm portraitieren. Die Bilder schickten sie an ihre Familien in Amerika. Als Bezahlung für diese klei-nen Kunstwerke brachte mein Vater manche Köstlichkeit mit nach Hause. Einmal war es eine Banane!
Ich hatte bis dahin weder eine gesehen noch von deren Existenz gewusst und war äußert skeptisch.
Der Familienrat hatte beschlossen, dass ich die Banane essen durfte. Nach einem vorsichtigen, winzigen Biss in die mir fremde Frucht, lehnte ich dieses Angebot mit angewidertem Gesichtsausdruck dankend ab. So kamen meine Geschwister in den Genuss dieser außerge-wöhnlichen Delikatesse.
Unser Aufenthalt in dieser Notunterkunft dauerte nicht sehr lange. Vielleicht zwei oder drei Wochen.
Mir kam es viel länger vor.
Wegen der bedrohlichen Enge in den Notunterkünften versuchte man alle Flüchtlinge so schnell wie möglich besser oder zumindest anders unterzubringen.
Mit unserer achtköpfigen Familie tat man sich schwer. Nirgends war genügend Platz für uns. Wohl deshalb schickte man uns in ein Dorf, nicht weit entfernt von der Stadt. Ein kleiner verlassener Bauernhof wurde uns als vorläufige Herberge zugeteilt. Wir hatten zwar auf der Flucht aus Schlesien manchen Bauernhof kennen gelernt, aber wir Stadtmenschen konnten alleine damit nicht viel anfangen. Zuerst erkundeten wir das, was unser neues Zuhause sein sollte. Es gab leere Ställe, eine baufällige Scheune, mehrere Holzschuppen mit allerhand Gerümpel und das altersschwache Wohngebäude.
Der Hof sah ziemlich heruntergekommen aus und die Vegetation war schon auf dem Vormarsch, um sich Ver-lorenes zurückzuholen. Alles war in einem desolaten Zustand. Vieles schrie nach Instandsetzung und Arbeit.
Natürlich gab es auch keine Tiere mehr auf dem Hof.
Na ja, keine großen Tiere.
Dafür hatten es sich hier viele kleinere und kleinste Lebe-wesen häuslich eingerichtet. Ratten und Mäuse hatten den Hof während der Abwesenheit von Menschen er-obert. Das merkten wir nicht sofort. Listigerweise hielten sie sich bei unserem Erscheinen erst einmal diskret im Hintergrund. Allerdings benutzten sie schon die erste Nacht, um uns auf eindrucksvolle Weise klar zu machen, wer hier Herr im Hause war. Und wie!
Nach dem langen schweren Tag, der voller Ungewissheit über unser neues Heim war, fielen uns an dem Abend, trotz der neuen ungewohnten Umgebung, schnell die Au-gen zu. Es war jedoch ein merkwürdig unruhiger Schlaf auf den Strohsäcken, aus dem man immer wieder, schein-bar grundlos, aufschreckte. Bald merkten wir jedoch, dass hier nichts grundlos geschah.
Irgendwann waren wir alle wach. Wir brauchten Licht. Leider konnte man nicht einfach zum Schalter gehen und Licht anknipsen, denn elektrischen Strom gab es nicht in unserer Nobelherberge. Unsere einzigen Lichtquellen bei Dunkelheit waren Kerzen. Nachdem wir also auf diese Art Licht „gemacht“ hatten, sahen wir, dass ein Grund für den unruhigen Schlaf Kalk war, der von der undichten Decke herab rieselte. Er rieselte allerdings nicht einfach so, sondern wurde von allerlei Getier zum Rieseln veranlasst. Diese wollten uns ihr Zuhause nicht ohne Gegenwehr überlassen. Ein paar zweite Gründe sahen wir grade noch durch den Raum in die nächst-gelegenen Löcher flitzen.
Ratten!?
Mindestens sehr große Mäuse!
Offenbar warteten unsere Vormieter, bis die letzte Kerze gelöscht war, um sich dann über uns her zu machen. Mäuse liefen über unsere Gesichter und unsere Zu-decken. Wir waren alle in hellem Aufruhr. Keiner wollte und konnte mehr schlafen. Trotz bleierner Müdigkeit machte in dieser Nacht niemand mehr ein Auge zu.
Am Tage darauf wurde, neben vielen anderen notwen-digen Dingen, eine Jagdstrategie entwickelt, wie man sich der nächtlichen Mäuseplage erwehren konnte.
Wie wir auch feststellten, waren wir in unseren Bemüh-ungen nicht allein. Mit ein paar halbwilden Katzen auf unserem neuen Grund und Boden hatten wir schnell Freundschaft geschlossen. Sie halfen uns auf ihre Weise das große Mäuseheer zu verkleinern
Es gab aber zu viele Mäuse.
Wir bereiteten uns gründlich vor. Wir wollten, in unserer Einfalt, das Übel auf einen Schlag und möglichst restlos beseitigen.
Sobald der Abend nahte, bewaffneten wir uns mit allem, was aufzutreiben war: Stöcke, Besenstiele, mit und ohne Besen dran, verrostete Schaufeln, verbogene Mistgabeln und andere landwirtschaftliche Geräte. Wir stellten eine furchteinflößende, achtköpfige Truppe dar.
Das meinten wir jedenfalls.
Wir beschlossen, uns bei Einbruch der Dämmerung hinzulegen und schnell die Kerzen zu löschen. Jeder hatte sein Kriegsgerät griffbereit unter der Decke versteckt. Keiner schlief! Alle waren bereit. Nach nicht allzu langer Zeit hörten wir die ersten, kaum wahrnehmbaren Geräu-sche. Wir warteten noch eine kurze Zeit, um unseren Geg-ner in Sicherheit zu wiegen.
Dann schlugen wir los. Schnell wurde eine Kerze entzündet und wir stürzten uns auf die überraschte und flüchtende Mäusemenge. Es gab ein gewaltiges Durch-einander und wir konnten von Glück sagen, dass wir uns nicht gegenseitig behinderten und verletzten. Alle Mäuse aber kamen mit dem Schrecken davon, außer eine, die sich wohl in der Aufregung verlaufen hatte und aus Versehen unter die Schaufel meines Bruders geriet.
Wir beschlossen, diese unbefriedigende, anstrengende und gefährliche Strategie aufzugeben und haben uns Mausefallen besorgt.
Wir mussten uns aber trotzdem an ein Leben mit allen Mitbewohnern gewöhnen und haben uns letztlich mit ihnen arrangiert. So gut es ging!
Auch mit allen Arten und Größen von Spinnen, Küchen-schaben, Ameisen und sonstigen Krabbeltieren.
Es gab noch andere aufregende Dinge.
Die Tierliebe meiner ältesten Schwester Rosa führte dazu, dass sich meine Schwester Lotte, die dritte, ihren Zeigefinger fast gebrochen hätte.
Das kam so:
Rosa, eigentlich heißt sie Rosalinde, musste jede Katze streicheln, die ihr über den Weg lief. Diese ließen sich das gerne von ihr gefallen und so sah man sie oft irgendwo Katzen streichelnd sitzen. Wir anderen hatten die Tiere auch gerne, aber nicht so hingebungsvoll wie Rosa.
Eines Tages hielt sie ein besonders süßes, noch sehr junges Kätzchen auf dem Schoß und streichelte es liebevoll. Durch ein lautes Geräusch erschreckt sprang das Tierchen von ihrem Schoß herunter und lief ins Haus hinein und blitzschnell die schmale, baufällige Treppe zum Dachboden hinauf. Rosa lief, trotz des strengsten Verbotes diese Treppe zu betreten, der Katze hinterher. Das Verbot war nicht umsonst ausgesprochen worden, denn das gesamte