Chrissi schüttelte den Kopf: „Dann kommt ihr am Ende noch zu spät zu der Vorführung. ‚Tanz des Flamingos‘, das hört sich doch recht nett an.“
Birgit wohnte in der Nähe des Tierparks in Odenkirchen und die Kleine mit den bunten Haaren stand schon vor dem Haus. Sie trug einen bunten Rock und eine grellrote Bluse.
„Meinst du, dass deine Kleidung angemessen ist?“, fragte ich mit einem schiefen Blick auf die grellen Farben. „Schließlich ist das eine Ballettaufführung und keine Zirkusveranstaltung.“
„Ich find’s schön“, meine sie pikiert. „Heutzutage geht kaum noch jemand im Abendkleid ins Theater. Höchstens mal die alten Leute. Außerdem reicht es ja, wenn du so schick bist, obwohl - dein Anzug ist ja auch schon ein wenig in die Jahre gekommen. Und dann die Farbe ...“
Leider musste ich ihr Recht geben, die Kleidung hatte ich ganz hinten aus meinem Schrank gekramt. Ich trug lieber legere Sachen und diesen schwarzen Anzug zog ich eigentlich nur bei Beerdigungen an.
Christine setzte uns am Bahnhof ab und verabschiedete sich mit einem süffisanten ‚Na dann viel Spaß‘.
Ein Zug musste gerade eingefahren sein, denn eine Gruppe von sechs Jugendlichen, alle mit einer Flasche Bier in der Hand, kam uns grölend entgegen. Ein paar Meter vor uns blieben sie stehen und einer von ihnen, ein korpulenter Kerl mit rasiertem Schädel, kam auf Birgit und mich zu. „Hallo Süße“, lallte er und hielt ihr die Flasche hin. „Trink einen Schluck mit mir. Keine Lust mit uns zu kommen, wo willste denn mit dem Opa hin?“ Er sprach absichtlich laut und die anderen lachten.
„Entschuldigen sie“, wandte ich mich an den Mann und blickte auf meine Uhr. Es blieb uns zwar noch etwas Zeit bis unser Zug abfahren würde, doch ich wollte mich jetzt von diesen Jugendlichen nicht aufhalten lassen. „Wir müssen auf den Bahnsteig, sonst verpassen wir unseren Zug.“ Ich wollte an ihm vorbeigehen, doch er stellte sich mir in den Weg. Eine Woge aus Alkoholdunst und Schweiß wehte mir entgegen.
„Nix da. Erst muss deine Tochter einen mit mir heben.“
„Sie ist nicht meine Tochter“, erklärte ich und trat einen Schritt zur Seite. „Komm“, meinte ich dann zu Birgit. „Es wird Zeit!“
„Hey, ich habe gesagt, die Kleine soll einen trinken. Und wenn ich sage, sie soll einen trinken, dann soll sie einen trinken.“
„Entschuldigung“, meldete sich jetzt Birgit zu Wort, die bisher mit einem Lächeln um den Mund alles beobachtet hatte. „Ich möchte jetzt lieber kein Bier trinken. Das können sie doch verstehen, oder? Lassen sie uns einfach nur vorbei.“
Jetzt traten die anderen aus der Gruppe etwas näher zu ihrem Kumpel heran. „Sie muss mit dir trinken“, stachelte einer den Glatzköpfigen an und der nickte.
Er hielt Birgit das Bier hin und befahl: „Los, trink!“ Birgit nahm die Flasche und beförderte sie mit einem gezielten Wurf in den nächsten Mülleimer. Mit einem Klirren verschwand sie. Dann lächelte sie den Mann zuckersüß an.
„Verdammte Schlampe!“, rief der und hob die Hand.
„Bitte“, ging ich dazwischen. „Das muss doch nicht sein. Wir sind zwei gegen sechs und das ist nicht fair. Ihr könntet verletzt werden!“
Der Kerl hielt die Hand immer noch in der Luft und sah mich grinsend an. „Laber nicht so’n Scheiß, Opa. Wir machen euch fertig!“
„Warum überlässt du die Sache nicht mir?“, fragte mich Birgit. „Dann ist das Verhältnis nicht ganz so unfair. Eine gegen sechs, das geht doch.“
„Ja“, murrte ich. „Du willst den ganzen Spaß für dich alleine.“ Ich blickte wieder auf meine Uhr, dann sah ich dem Glatzkopf ins Gesicht. „Okay, ich halte mich zurück. Doch wenn sie uns jetzt nicht den Weg freigeben, dann kann ich für nichts garantieren. Wir wollen keinen Ärger und bitten sie, uns in Ruhe zu lassen.“
„Laber nicht so’n Scheiß!“
„Das sagten sie schon, sie wiederholen sich.“ Ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollten sie lieber nicht so früh mit dem Biertrinken anfangen.“
Der Korpulente sah mich nur blöde an, dann wandte er sich Birgit zu und ließ die Hand auf sie herabsausen. Doch da, wo das Mädchen eben noch gestanden hatte, war niemand mehr. Die Hand sauste ins Leere und der Dicke fluchte. Einer der Jungen trat von der Seite auf Birgit zu und wollte sie festhalten. „Warte, ich halte sie für dich fest“, konnte er gerade eben noch nuscheln, dann zog Birgit ihm in einer eleganten Drehung die Beine weg. Sie trat geschickt von vorne zu, so dass der Mann mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlug. Das Brechen der Nase war deutlich zu hören und Blut schoss aus Nase und Mund.
Anstatt, dass dem Dicken das Schicksal seines Kumpels eine Lehre gewesen wäre, ging der jetzt schnaufend auf Birgit los. Im selben Moment zückte ein weiterer Jugendlicher ein Messer und ich musste grinsen. Das gab mir eindeutig das Recht, jetzt einzugreifen!
Während Birgit sich unter dem Arm des Glatzköpfigen wegdrehte, seine Hand ergriff und sie aus dem Schwung heraus so verdrehte, dass das Handgelenk brach, stoppte ich den Angreifer mit dem Messer durch einen gezielten Ellbogenstoß ins Gesicht. Dann fixierte ich seinen Arm mit der Waffe und entwand sie seinen Fingern. Dass dabei zwei davon knackend brachen, störte mich weniger, als die Schmerzensschreie, die die Verletzten ausstießen. Als Birgit schließlich auf die drei verbleibenden Gestalten zuging und ‚buh‘ machte, rannten die planlos davon.
„Wie siehst du denn aus?“, fragte die Bunthaarige und zeigte auf mein Jackett, als wir uns im Zug auf einen Platz setzten. Ich blickte an mir herunter und bemerkte, dass ein langer Riss durch den Stoff ging. Der Anzug war einfach zu alt und das Gewebe morsch. Ich zuckte mit den Schultern. Ändern konnte ich jetzt ja ohnehin nichts mehr.
„Vielleicht sollten wir doch nicht zu der Aufführung gehen“, versuchte ich einen Rückzieher zu machen, aber Birgit schüttelte nur den Kopf.
„Das geht nicht. Wir wollen doch Sergio Palyska kennenlernen. Zieh später einfach die Jacke aus und trag sie über der Schulter. Dann fällt keinem auf, dass sie einen Riss hat.“
Das Theater fanden wir neben einer Geschäftszeile in der Düsseldorfer Innenstadt. Es machte auf mich den Eindruck, als handele es sich um ein ehemaliges Kino und Birgit bestätigte meine Vermutung. „Das Kino wurde Neunzehnhundertachtundfünfzig eröffnet und erst im Jahr Zweitausend geschlossen. Noch im gleichen Jahr funktionierte man es dann in eine Kleinkunstbühne um.“
Ich sah meine Kollegin fragend an, während wir das Foyer betraten. „Kleinkunstbühne?“
„Ja, Comedy und so etwas. Kennst du nichts davon?“
„Interessiert mich einfach nicht. Kleinkunst. Ich gebe mich doch nicht mit Kleinkram ab. Wieso tut sich das eigentlich dieser Sergio Palyska an, wenn er doch schon an der Deutschen Oper getanzt hat?“
Birgit überlegte: „Das kannst du ihn ja nach der Vorstellung selber fragen. Vielleicht war es sein großer Traum mit einem eigenen Programm auf Tournee zu gehen. Ein Traum, den er sich jetzt erfüllt, da sein Vertrag ausgelaufen ist.“
Ich bestellte etwas zu trinken für uns und sah mich um. In dem Raum befanden sich mehrere Gruppen von Menschen, die sich leise miteinander unterhielten. Niemand von denen trug ein Abendkleid oder einen Anzug. Vorwiegend sah ich Jeans, legere Hemden und luftige Kleider oder Röcke. „Ich komme mir overdressed vor“, raunte ich Birgit zu. „Kein Mensch läuft im Anzug herum.“
„Das habe ich doch gesagt, Jonathan. Die Zeiten ändern sich. Es geht nicht mehr so förmlich zu, wie zu der Zeit, als du deine Tanzschule absolviert hast.“ Birgit nahm einen Schluck Cola.
„Ich war nie in der Tanzschule“, gab ich zu. „Damals waren für uns Jungs andere Dinge wichtiger. Mopeds zum Beispiel.“
„Oder Mädchen“, ergänzte Birgit und lächelte schelmisch.
„Das kam erst viel später.“ Ich erinnerte