Mingus wurde es heiß und übel bei der Vorstellung, und er würgte das letzte Minzplättchen wieder hervor. Würde er sich im Abgrund der Ewigkeit in ein vergessenes Nichts verwandeln? Als sei er nichts weiter als ein Furz im Wind? Sein Leben ein zu winziger Augenblick, um überhaupt von der Ewigkeit bemerkt zu werden? Die Ewigkeit konnte er ebenso wenig leiden wie die Unendlichkeit. War er dazu verdammt mit jedem Atemzug, dem Rachen des Allesfressers näherzukommen, der sämtliches Leben irgendwann verschlingen würde? Gab es einen achten Tag, an dem Gott die Klospülung drückte, von dem ihm nur keiner erzählen wollte?
Was für eine grausame und sardinische (oder wie das nochmal hieß) Angelegenheit wäre das Leben dann? Der kalte Angstschweiß brach ihm aus. Er vergrub sein mit Schokolade verschmiertes Gesicht in seinen Händen. Nein, nein und nochmals nein! Es ergab doch gar keinen Sinn! Er musste etwas übersehen haben, etwas Wesentliches. Einen Hinweis, ein Indiz für Logik im scheinbar Unsinnigen. Sicher sah er nur den Wald vor lauter Bäum- … plötzlich saß er wie vom Donner gerührt im Bett. Konnte es ...? War es eventuell möglich ... ? Mingus fixierte mit offenem Mund den leeren Raum vor sich.
Eine Erinnerung war jäh aufgetaucht. Die Erinnerung an seine ehemalige Kindergärtnerin. Unter einem Baum hatte sie den Kleinen in ihrer Obhut einst den Wechsel der Jahreszeiten beschrieben. Von ihr hatte er zum ersten Mal vom wundersamen Kreislauf der Natur gehört und fand ihn fast ein bisschen unheimlich in seiner bestechenden Perfektion. Er war ihm wie Magie erschienen und ehrfürchtig hatte er den Ausführungen gelauscht, mit welchen ihm die endlose Wandlung des Baumes erklärt wurde. Ein Baum, der stets am selben Ort verharrte und ein und derselbe Baum blieb, obwohl er viele Verwandlungen durchlief. Diese Wandlungen vollzogen sich außerdem in Einklang mit der Umgebung des Baumes, die in den Prozess eingebunden war: Das herabfallende Laub wurde Teil des Erdbodens, nährte die Pilze und das Gras, welche wiederum durch die Wurzeln, den Baum nährten und für neues Laub sorgten. Überrascht und ungläubig hatte er diese neuen Informationen aufgenommen, die sowohl von verblüffender Klugheit als auch beruhigender Zweckmäßigkeit in der Natur zeugten. So ein Leben als Baum war nach einem klaren und ausgewogenen Plan ausgerichtet, obwohl es sich nur um einen Baum handelte. Der Schlüssel zum Leben lag irgendwo in der Nähe dieses Baumes, der einem Zyklus folgte. Mingus beschloss, sich in den nächsten Tagen eingehender mit Bäumen zu befassen.
Aufgeregt sprang er auf und rannte ins Badezimmer, wo er sich sorgfältig die Hände und den Mund abwusch. Auf Zähneputzen hatte er keine Lust. Wer konnte sich schon mit Zähneputzen aufhalten, während er in einem unendlich expandierenden Universum lebte? Seine Zeit darin war immerhin begrenzt. Er musste sorgsam mit ihr umgehen und Prioritäten setzen, wofür er sie nutzen wollte! Zähneputzen konnte auch mal ausfallen, beschloss er. Mingus gähnte herzhaft, marschierte dann zielstrebig zurück in sein Zimmer, legte sich hin und knipste das Licht aus. Als er sich sich für mehr Bequemlichkeit die Bettdecke zwischen die Knie stopfte, stieß er ungeschickt mit dem Kopf an die Wand. Er rieb sich die schmerzende Stelle. Auch das noch. Wo ihm sein Kopf doch sowieso schon weh tat vom vielen Grübeln. Denken ist einfach zu anstrengend, entschied er. Genug gedacht für heute. Bald darauf war ihm der Schlaf endlich gnädig und kroch zu ihm ins Bett.
III.
In der Nacht vor seinem siebten Geburtstag träumte Mingus von einem Krokodil, das eindeutig nicht alle Tassen im Schrank hatte. Es rannte ständig mit dem Kopf gegen eine Wand, unterbrach diese Aktion dann, um sich kurz zu schütteln und sofort wieder kopfüber in die Wand zu krachen. Dicke Beulen zeichneten sich bereits um den Schädel herum ab. Das Krokodil ließ sich davon nicht beirren und nahm weiter Anlauf um Anlauf. Traum-Mingus sah ihm eine Weile erstaunt zu. Schließlich fragte er:
„Hast du sie nicht mehr alle?“
Überrascht fuhr das Krokodil herum. Es blickte hinter sich und deutete dann fragend auf seine Brust.
„Wer? Ich?“
Mingus nickte.
„Ja, du. Oder siehst Du hier noch einen anderen Irren?“
Das Reptil warf einen misstrauischen Blick über seine Schulter, dann schüttelte es erleichtert den Kopf.
„Nur dich..“
Mingus rollte mit den Augen.
„Was um alles in der Welt treibst du da nur an der Wand?"
Das Krokodil sah ihn verblüfft an.
„Das liegt doch wohl auf der Hand?! Nein? Na gut. Also, ich bin besessen. Ich kann nicht anders. Ein zwanghafter, unkontrollierbarer Impuls überkommt mich von Zeit zu Zeit, mir den Kopf zu zerbrechen. Geht dir das denn nie so?"
Das Krokodil warf ihm einen betont unschuldigen Augenaufschlag zu. Mingus gab keine Antwort und das Krokodil machte einen Schritt auf ihn zu.
„Nein? In diesem Fall helfen auch ein paar leichte Schläge auf den Hinterkopf, die können Wunder wirken und für ganz neue Denkanstöße sorgen", versicherte es und machte eine einladende Geste mit seiner Pranke.
Mingus wich erschrocken vor dem verrückten Krokodil zurück. Das ließ die Pranke wieder sinken und wandte sich mit einem Schulterzucken von ihm ab. Als habe es gänzlich das Interesse an der Unterhaltung und an Mingus verloren, stand es da, stemmte die Arme - oder waren es Vorderbeine? - in die Seiten und betrachtete interessiert die Gegend. Nur gab es da rein gar nichts zu sehen. Sie waren in einem Traum,
Mingus` Traum, in welchem nichts weiter vorhanden war als sie beide, eine Wand und aus irgendeinem unerfindlichen Grund - ein Stein. Das Krokodil fixierte konzentriert den Horizont, furzte unerwartet genüßlich und grunzte anschließend erleichtert auf.
Mingus trieb es peinlich berührt die Schamesröte ins Gesicht. Dem Krokodil war das ziemlich egal.
„Uuäh!“, entfuhr es Mingus plötzlich.
Der Anschlag hatte ihn unvorbereitet getroffen und erforderte den sofortigen Übergang in den Notfallmodus: Er begab sich in den Atemstillstand. Hastig wedelte er mit beiden Händen die schädlichen Abgase von sich fort, die begonnen hatten, sich vom Krokodil her unerbittlich in Mingus` Richtung auszubreiten. Mingus hasste es, wenn man ihn anfurzte. Auch im Traum machte er da keine Ausnahme.
„Du musst dringend zum Arzt, so wie du stinkst. Da ist sicher etwas nicht in Ordnung bei dir. Vielleicht hast du sogar die Pest? Wegen der Beulen, meine ich", rief er dem Krokodil mit erstickter Stimme zu, während er vorsichtig durch den Stoff seines Hemdärmels ein- und ausatmete.
Leider schaffte das keine wirkliche Abhilfe. Der Gestank war unerträglich.
„Uah, ich glaube, ich muss kotzen", murmelte er. „Wie kann ein Traum nur so stinken?“, beschwerte er sich.
„Frag mich nicht, du bist der Träumer! Ich bin nur das ausführende Organ", antwortete das Krokodil gleichmütig.
Nachdem die Luftqualität wieder einigermaßen passabel geworden war, setzte sich Mingus auf den Stein und sagte ernst zu dem Krokodil:
„Du hast meine Nase fast blind gemacht! Tue das nie, niemals wieder, hörst du?!“
Doch das Krokodil gähnte bloß gelangweilt. Diese Unverfrorenheit verschlug Mingus kurz die Sprache. Dann fragte er resigniert:
„Also, wieso genau bist du in meinem Traum, oh großer, übler Duftspender?"
„Na, du wolltest doch unbedingt wissen, wer und was du