Als ich es endlich wagte, den Kopf zu heben, fiel mein Blick auf ein geöffnetes Fenster im ersten Stock, aus dessen Rahmen heraus eine Gestalt mit kaltem Grinsen zu uns herabblickte: Capitaine Hessler!
Le Boche! Capitaine Hessler im Jahr 1985 am Pont du Gard. Der Deutsche, ein unbelehrbarer Draufgänger, hat zahlreiche Einsätze hinter sich, darunter Algerien, Tschad, Kolwesi und Libanon.
Die Duschen waren nicht im Gebäude, sondern dahinter. Im Laufschritt liefen wir die knappen hundert Meter, nur um zu erfahren, dass wir genau drei Minuten Zeit hatten, uns zu duschen und erneut anzutreten. Am nächsten Tag bekamen wir die Zusatzausrüstung. Die Bekleidungskammer lag außerhalb der Kaserne, und wieder waren wir im Laufschritt und in einer sauberen Reihe unterwegs. Das wohl markanteste Teil der Ausrüstung war der sogenannte Trois-quarts‘, ein Dreiviertelmantel, bis knapp über die Knie reichend, von dunkelbrauner Farbe. Dick, schwer und im Spind den meisten Platz einnehmend, hatten wir ihn nie benutzt. Man wollte in Castelnaudary keine hervorragenden Soldaten aus uns machen. Die Seele der Fremdenlegion sollte uns eingehaucht werden: Disziplin, Tradition, Lieder der Legion, Respekt den Vorgesetzten gegenüber, erlernen des Code d’honneur du légionnaire (Ehrenkodex, siehe Anhang) und der französischen Sprache. Die Binômage spielte dabei eine kapitale Rolle. Auch sollten wir hier schon mal mit einigen Waffen vertraut gemacht werden und nicht zuletzt eine akzeptable körperliche Fitness erlangen. Um kurz auf die sogenannte Binômage zurückzukommen. Binôme heißt frei übersetzt: Paar. Das Binôme war und ist die Basis für die erfolgreiche Eingliederung in die Familie. Schnörkellos und gleich von Beginn an wurde jedem, der nicht der französischen Sprache mächtig war, ein Binôme zugewiesen. Das war in aller Regel ein Franzose oder zumindest ein Französisch sprechender Legionär. Ständig klebten die beiden zusammen, wobei es Aufgabe des Französisch sprechenden war, seinem Kameraden alles zu übersetzen. Und zwar so, dass es den normalen Tagesablauf nicht infrage stellte. Die Kehrseite für den Armen? Wenn ich zum Beispiel der Ausbildung nicht folgen konnte, weil ich das eine oder andere Wort nicht verstand, dann wurde mein Binôme zur Rechenschaft gezogen, und Gnade ihm Gott. Mit einem Satz heißer Ohren war es dann oft nicht getan! Entging mir immer noch der Text eines Liedes oder sprach ich Wörter falsch aus, verbrachten er und ich unsere Nächte, die eh schon kurz genug waren, damit, bei Kerzenlicht das aufzuarbeiten, was die anderen uns schon voraushatten. In Sachen Sprache war er für mich ein wandelndes Lexikon. Geht es nach einigen Wochen zum ersten Mal in die Stadt, läuft nicht ein hübsches, braunhaariges Mädchen aus der Provinz an meiner Seite, sondern mein ruppiger Binôme, der mir sagt, wie ich auf Französisch ein Bier bestelle oder ein paar umständliche Worte auf ein Stück Papier kritzle, um sie doch noch einem Mädchen heimlich zuzustecken. Den Ceinture bleue (blauer Gürtel, bis 1882 zum Schutz der Nieren und inneren Organe gedacht und unter der Uniform getragen, heute ein nicht wegzudenkendes Attribut der Parade- und Wachuniform) zum Beispiel kann man nur zu zweit, mit einem Binôme, anlegen. Im Einsatz ist das Paar Binôme unzertrennlich. Der eine ist des anderen Lebensversicherung!
Anm. d. Verf.: Wer die Bücher von Erwan Bergot – Fremdenlegionär und Schriftsteller – gelesen hat, der kennt die Geschichte der zwei Legionäre, der eine ein Deutscher, der andere ein Jude, ein Israeli. Sie waren ein Binôme. Die ganze Familie des Israeli kam in einem Nazi-Konzentrationslager ums Leben. Im Kampf wurde der Israeli schwer verwundet, lag im Feindfeuer. Der Deutsche, sein Binôme, zögerte nicht eine Sekunde. Er holte seinen „Waffenbruder“ vom Schlachtfeld, barg ihn, setzte sein eigenes Leben dabei mehrmals aufs Spiel. Par excellence hat er durch diesen Akt demonstriert, was es heißt, ein Legions-Binôme zu sein. Salopp ausgedrückt, habe ich selbst oft schon erlebt, dass der eine Mist baute, der andere aber dafür geradestand. Und zwar ohne zu murren. In der Ausbildung an den Waffen nimmt einer das Gewehr auseinander, der andere baut es wieder zusammen: Und so ist es in allen Dingen! Was zurückbleibt? Freundschaften, die ein Leben dauern!
„As-tu vu le fanion du légionnaire. As-tu vu le fanion de la Légion. On nous appelle les fortes têtes. On a mauvaise réputation. Mais on s’en fout comme d’une musette. On est fier d’être à la Légion, à la Légion …“ Hast du das Feldzeichen des Legionärs gesehen? Siehst du das Drapeau der Legion? Man nennt uns Sturköpfe. Wir haben einen miserablen Ruf. Uns ist es egal. Wir sind stolz, bei der Legion zu sein! Le Fanion de la Légion.
Dieses Lied, es war das erste, das man uns beibrachte, noch lange vor dem Regimentslied, wird mich wohl verfolgen bis ins Grab. Unser Zugführer, ein spanischer Adjudant-chef mit einem Dalí-Bart und dem Temperament eines Stierkämpfers, liebte es, während uns ein Schauer über den Rücken lief, nach dem Abendessen (la légion est dure, mais la gamelle est sûre, die Legion ist hart, zu essen kriegt trotzdem jeder) mit mächtiger Bassstimme zu rufen: »Garde vous! Le ton!« Im Kreis marschierend sangen wir es einmal, fünfmal, wir sangen es noch, als um Mitternacht die Wache ihre Runden im Quartier drehte! Wer dachte, es sei nun Schluss, täuschte sich gewaltig. Ausgerüstet mit einer Savon de Marseille, der Kernseife aus der gleichnamigen Stadt, und einer Wurzelbürste hieß es Klamotten waschen und zum Trocknen aufhängen. Lag man endlich im Bett, im Saal, in dem es nach Schweiß, nach Wut und nach unausgesprochener Angst roch, kam das Unausweichliche: das Gemurmel flüsternder Stimmen und die Querelen der Legionäre unter sich. Es waren Abrechnungen und Einschüchterungsversuche, bis dann spät in der Nacht endlich Ruhe einkehrte. Kurz bevor wir zur Farm Bel-Air verlegten, kam es zu einem kleinen Zwischenfall, der mir bis heute eine Lehre ist. Mein Lehrer war niemand anderer als dieser Thompson, der längst mehr für mich war als nur ein Kumpel. Wir waren Freunde geworden! Jeder von uns besaß damals zwei paar Stiefel, die Rangers. Sorgsam hegten und pflegten wir sie. War der Kampfanzug zu groß, die Handschuhe zu klein: Kein Problem! Die Stiefel aber mussten passen. Gut sitzende Stiefel waren ebenso wichtig wie das tägliche Abendbrot. Passten sie nicht, konnte das ins Auge gehen. Ich saß gerade auf der Treppe, die hinauf in unseren Saal führte, und polierte meine Kampfstiefel, als ein Schatten auf mich fiel.
»Schön von dir, dass du mir die Arbeit ersparst!«
Es waren Erdoğan und sein Binôme. Erdoğan war Türke, ein Boxer, ein Straßenkämpfer übelster Sorte! Instinktiv sah ich mich um, und in der Tat: Sein bester Freund lümmelte scheinheilig ein paar Stufen tiefer herum, während er sorgfältig den Treppenaufgang überwachte. Ein weiterer Kumpel kontrollierte das darüberliegende Stockwerk. Sie waren zu dritt! Ich wollte aufstehen, doch Erdoğan drückte mich mit beiden Händen auf die hölzernen Stufen zurück. Es roch nicht nach Ärger, der Ärger war schon längst da.
»Was willst du von mir?« Ich versuchte meiner Stimme einen festen Klang zu geben. Gleichzeitig sah ich mich nach Thompson um: Nichts! Auch vom Caporal de jour war weit und breit keine Spur zu sehen.
»Die Stiefel«, sagte er leise. »Gute Arbeit hast du da geleistet und nun gib sie schon her.«
Sein Binôme schob sich unauffällig näher an uns heran.
»Sie gehören mir. Lass mich in Ruhe, Erdoğan.«
Wo blieb nur Thompson?
Erdoğans Hand schnellte vor, griff nach dem glatten Leder, während im selben Augenblick sein Binôme schwer die Hand auf meine Schulter fallen ließ. Man brauchte mir kein Bild zu malen. Ich wusste, was abging.
»Es waren deine«, hörte ich Erdoğan sagen. »Jetzt haben sie den Besitzer gewechselt! Und wehe, wenn du …«
Noch bevor er ausgesprochen hatte, stürzte sich Thompson, keiner von uns hatte ihn kommen sehen, mit einem wilden Schrei, der mir durch Mark und Bein drang, auf die beiden. In einem wilden Durcheinander krachten sie die Stufen hinab, während Thompson mächtige Schläge nach rechts und links verteilte. Eine Minute später war alles vorbei. Meine Stiefel in der Rechten, kam Thompson grinsend die Stufen hoch. Er blutete an der Stirn, aber es war, wie sich nachher herausstellte, nicht sein Blut.
»Egal wie viele es sind«, sagte er und gab mir mein Eigentum zurück. »Lass niemals zu, dass dich jemand berührt, wenn du es nicht willst! Niemals, hörst du?«
Ich