»Mit denen da oben ist nicht gut Kirschen essen«, sagte ein Marokkaner zu mir. Es war derselbe, der mich tags darauf wegen einer unsinnigen Kleinigkeit mit einem Messer bedrohte. Vielleicht war er ein guter Messerkämpfer, aber vom Faustkampf hatte er nie etwas gehört. Unser Disput endete damit, dass mir der Kragen platzte und ich ihm ein Ding verpasste, dass ihm Hören und Sehen verging. Sein Opinel, ein Brotzeitmesser mit einem hölzernen, nussbraunen Griff, landete unter dem Tisch, er selbst lief einige Tage lang mit einem blauen Auge herum.
In meiner Jugend las ich sehr viel, verschlang jedes Buch, das mir in die Hände kam. Entfernte Länder und exotische Abenteuer waren für mich ein Mysterium. Und danach sehnte ich mich: nach der Ferne, nach Abenteuer, nach dem Außergewöhnlichen. Insoweit, als es erdenklich ist, dass in einem Mann zwei Seelen schlummern, die des Romantikers und die eines Kämpfers, wollte ich beides für mich in Anspruch nehmen. In Aubagne lag ich nachts oft wach im Bett, dachte, dass im Ursprung eines jeden Abenteuers ebendieses zum Greifen nahe Mysterium liegt. Nach Einbruch der Dunkelheit zirpten die Zikaden, und von meinem Fenster aus sah ich die Berge. Ein warmer, milder Mittelmeerwind lockte verheißungsvoll. Irgendwo hinter diesem Meer, das spürte ich deutlich, lag meine Zukunft. Ich wollte plötzlich nicht mehr warten, sondern wollte alles auf einmal haben, und zwar sofort. Alle Abenteuer, alle Risiken, alle Gefahren auch. Ich wollte alle mysteriösen Berge erklimmen, die dort am Horizont emporragten. Bereits weit weg von zuhause, wurde ich von einem unwiderstehlichen Fernweh gepackt. Was genau ich suchte? Ich weiß es nicht! Möglicherweise hatte mir folgender Satz den Verstand geraubt.
… hinter den Lichtern einer fernen, fernen Stadt schlummert meine Liebe im Verborgenen, also gab ich meinem Herzen einen festen Stoß und begab mich auf die Wanderung um die nächste Straßenbiegung!
Ich glaube, diese Zeilen in einem Buch von Louis L’Amour gelesen zu haben, dessen Bücher ich bereits seit meiner frühsten Kindheit gelesen hatte.
»Wach auf, Gast!«
Ich hatte mit offenen Augen geträumt.
»Der Sergent de semaine (Unteroffizier vom Dienst) will dich sehen!«
,Chef d’étage‘ Schmidt, ein deutscher Intellektueller, der ein paar Tage darauf desertierte, stand vor mir. »Sieht nach Ärger aus!«
Der Chef d’étage, meist ein Frankophoner, also ein bereits Französisch sprechender Leidensgenosse, der dadurch Punkte sammelte, dass er uns bis aufs Blut mit nicht enden wollenden Arbeiten, den sogenannten Corvées, triezte, wurde unsanft beiseitegeschoben. Hinter ihm erschien eine wuchtige Gestalt, in der ich den Sergent de semaine erkannte. Ich sprang auf und nahm Grundstellung ein.
»Mokhtar, der Marokkaner, ist spurlos verschwunden!«, sagte er mit eindeutig belgischem Akzent. Er studierte mein Gesicht. »Du hast nicht zufällig ’ne Ahnung, warum und weshalb?«
Die Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Mokhtar hatte die Runde gemacht. Leugnen war das Dümmste, was ich jetzt tun konnte, und so erzählte ich ihm ohne Umschweife, was geschehen war. Eine Schlägerei, das wusste ich, konnte in der Rekrutierungsphase die sofortige Entlassung zur Folge haben. Vielleicht täuschte ich mich, aber ich glaubte, in den Augen des Mannes vor mir den Ausdruck heimlicher Genugtuung und stillschweigender Anerkennung zu sehen. Die Sache ging für mich glimpflich aus, denn ich hörte nie wieder etwas über den Vorfall. Die nächsten Tage wurden von zahlreichen Arbeiten geprägt: Corvée chiot (Toiletten reinigen); Corvée quartier (den Exerzierplatz und die Wege um das Gebäude von Zigarettenkippen und sonstigen Relikten säubern); Corvée foyer (Reinigen der Kantine); Corvée ordinaire (Reinigen des Speisesaals). Natürlich gab es auch Arbeiten außerhalb vom Quartier Viénot. In Puyloubier unter anderem. Diese Institution der Invaliden der Fremdenlegion hatte mich zutiefst beeindruckt, und das tut sie noch heute. L’Institution des Invalides de la Légion étrangère in Puyloubier (I.I.L.E), in der Domaine Capitaine Danjou, wurde 1954 ins Leben gerufen. Ihr ursprüngliches Anliegen war es, die verwundeten Veteranen des Indochinakrieges aufzunehmen. Diese Institution beherbergt invalide wie auch gesunde, heimatlose Anciens – Ex-Legionäre und auch solche, die sich mit der Integration in das Zivilleben schwertun. Alle Bewohner werden nach mustergültiger Art und Weise ärztlich betreut, haben meist Einzelzimmer, Restaurant, Freizeitmöglichkeiten und können dort auch arbeiten. Der Wein, der auf der Domäne hergestellt wird, wird zum größten Teil an die verschiedenen Regimenter der Legion in Frankreich und in Übersee geliefert. Er ist auch vor Ort (oder via Internet) käuflich zu erwerben. Allein diese Idee: Großartig! Obwohl ich gekommen war, um dort den Küchenboden zu schrubben, diverse Küchengeräte zu reinigen, Essensreste von schmutzigen Tabletts zu fegen und den Müll zu entsorgen, konnte ich nicht umhin, die alten Legionäre, die hier wohnten, zu bewundern. Die Legion bot ihnen hier – erneut, möchte ich sagen – eine Heimat. Sicherlich hatten sie es im Leben nicht leicht gehabt, in der Domäne Danjou hingegen blühten sie auf. Ein Lächeln hier, eine freundliche Begrüßung da. Ich sah nur ausgeglichene Gesichter. Tagsüber, sofern ihre Gesundheit dies zuließ, fabrizierten sie Keramik: Tassen, Teller und Krüge. Sie widmeten sich der Landwirtschaft oder arbeiteten in den Weinbergen (Syrahs, Cabernet-Sauvignons und Grenaches), wo sie den süffigen Puyloubier herstellten. Auch Olivenöl wurde produziert! Es war und ist eine Anlaufstation für diejenigen, die der Legion gedient hatten (nicht sich der Legion bedient!) und die sich, auch aufgrund ihres Einzelgängertums und ihrer militärischen Vergangenheit und Veranlagung, mit der Eingliederung ins Zivilleben schwertaten oder daran gar scheiterten. Es waren diese Anciens, die Ehemaligen, die Veteranen, meist hochgewachsene, eckige und stille Männer. Viele von ihnen waren Kämpfer im Indochinakrieg gewesen, hatten zwischen 1954 und 1962 in Algerien (Krieg um die Unabhängigkeit Algeriens) gedient oder beides. Ohne Ironie nannte man sie auch les Sentinelles du soir, die Wächter des Abends! Legio Patria Nostra. Das machte Sinn, besonders wenn man die Worte auf die I.I.L.E. bezog. Tags darauf folgte eine Reihe von Tests. Hauptsächlich wurden dabei die Urteilsfähigkeit, eine gewisse Portion Logik sowie auch die emotionale Seite der Kandidaten geprüft. Ich erinnere mich an irgendwelche Zahnräder, die sich in alle Richtungen bewegten, nur nicht dorthin, wo ich es gerne hätte. Ich war eher praktischer Natur und fürchtete um eine mittlere Katastrophe. Danach kamen die ärztlichen und sportlichen Examen. Diese zu bestehen hatte ich keine Angst. Acht Wochen, bevor ich nach Straßburg fuhr, hatte ich mir durch morgendliche Waldläufe und eine spartanische Lebensweise den notwendigen Schliff gegeben. Was man von mir forderte, empfand ich schlicht und einfach als machbar.
Anm. d. Verf.: Und in der heutigen Zeit? In diesen Tagen besteht der sportliche Aufnahmetest essenziell aus drei Klimmzügen und dem Ausdauertest „Luc léger“. Die Klimmzüge sollten so ausgeführt werden, dass das Kinn höher ist als die Stange. Vor der jeweiligen Aufwärtsbewegung müssen die Arme „ganz“ gestreckt sein. Es gibt viele, die hier „versemmeln“, und das, obwohl sie eigentlich problemlos zehn Klimmzüge machen könnten. Sie beherzigen einfach diese zwei Punkte nicht: Kinn über die Stange, Arme gestreckt! Bei dem Ausdauertest geht es darum, auf einer genau bemessenen Strecke von 20 Metern hin und her zu laufen. Der Laufrhythmus beziehungsweise die Geschwindigkeit wird dabei jede Minute um 0,5 km/h erhöht. Jeder Kandidat muss dabei seine Geschwindigkeit so einteilen, dass er quasi auf den Meter genau nahe der Linie ist, wenn das hörbare Signal zum Neustart in die andere Richtung ertönt. Bei dem Test wird die sogenannte Vitesse maximale aérobie (VMA) ermittelt. Grob: Ihre Kondition wird „gemessen“! Wer genau wissen will, wie der Test praktisch durchgeführt wird, kann diesen mittels Eingabe „Test Luc léger“ auch bei Youtube finden (wer gut Französisch spricht,