Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut Lauschke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738049961
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stapfte, die er nicht zu registrieren schien. Als er nach etwa hundert Metern rechts abbog, die enge Straße in Richtung Elisabethkirche einschlug, schloss sie die Tür und begann mit dem Abräumen des Tisches. Sie änderte ihren Plan mit dem erst das Spülen und Aufräumen der Küche und dann dem Lesen des Briefes. Nachdem der Tisch abgeräumt und die Tischdecke glatt gezogen war, setzte sie sich auf ihren Stuhl, holte die zwei Blätter des auf drei Seiten beschriebenen Briefes aus dem Umschlag und las. Da sie Briefe des Schwiegervaters Georg Wilhelm Dorfbrunner früher schon gelesen hatte, fiel auch ihr die verlorene Eleganz im Schriftzug mit dem Krakelhaften und die Wortdurchstreichungen mit den Überschreibungen auf, denn das war ihr bisher in den Briefen so krass nicht aufgefallen. Es wird seine Gründe haben, dachte Luise Agnes und las behutsam Satz für Satz. Sie spürte die Sorge, aber auch die Wärme, die aus dem ersten Abschnitt sprachen, als von ihren täglichen und nächtlichen Gedanken, vom Beruf ihres Mannes, den Anforderungen und der Kraft die Rede ist, die zur Bewältigung der Aufgaben erforderlich ist, wenn der Vater von ihrer Schwangerschaft schreibt, dass sie, die Eltern, die Familiengründung mit Dankbarkeit und Glück erfüllt, aber sich Sorgen um die Zukunft macht. Beim Lesen des zweiten Abschnittes fühlte sie, wie die Übelkeit in ihr aufstieg, als da die Rede vom verlorenen Krieg, der Ungewissheit mit dem Verlust der Söhne, von der Trauer, dem Elend und der bitteren Armut ist. Ihr schwammen die Zeilen vor den Augen davon, als es auf das unsägliche Leid mit der Schlaflosigkeit und körperlichen Verzehrung, auf den Konzentrationsverlust im Unterricht mit den Verwechselungen von Geschichtsdaten zuging. Die Zeilen schlugen wie ein Gewitter auf sie ein; ihr wurde schwarz vor Augen, musste sich am Tisch festhalten, um nicht vom Stuhl zu kippen. Hier wurde ausgesprochen, was sie mit ihren Jahren noch gar nicht fassen konnte. Da fühlte sie sich doch noch als ein hilfloses Kind, das die Hand hebt, sie weinend dem Älteren entgegenstreckt, um über so einen Menschenplatz geführt zu werden, wo der Tod und das Leben als Zwillinge herumhuschen, ihre Grimassen schneiden, Laute machen und nicht nur Kinder erschrecken, sondern selbst Schreckerprobte in der Sprachlosigkeit erstarren lassen, als würde ihnen mit einem Schlag das Auge erblinden, das Ohr vertauben, die Zunge und Atmung erlahmen. Luise Agnes weinte, sie weinte heftig, und das Weinen dauerte Minuten, dass sie das Lesen unterbrach. Tränen tropften auf den Brief, die sie unvollständig wegwischte und dabei vollständiger die Tinte mit den Buchstaben und Worten verschmierte. Sie kam sich nicht neu, aber anders geboren vor, als sie die Sinne einigermaßen eingefangen und sich in ihrer Persönlichkeit gefangen hatte und von neuem den Versuch unternahm, den zweiten Abschnitt mit den angeführten Punkten zu lesen. Es wurde ihr schwer beim Lesen, fürchterlich schwer ums Herz, als kämen von jeder Zeile Pfeile geschossen, die sie träfen, was gar nicht die Absicht des Schreibers war; das fand sie heraus, je mehr sie darüber nachdachte, von Zeile zu Zeile, ja, von Wort zu Wort nachdachte, was sie im Augenblick gelesen hatte.

      Eckhard Hieronymus hatte den Weg zur Elisabethkirche tatsächlich genommen. Beim Gang durch die Straßen trug er den Brief des Vaters über den Augen, dass er auf das Pfützige, und was der schwere Regenguss sonst noch auf die Straße geschwemmt hatte, nicht achtete. Er betrachtete sich die Kirche von außen, deren Glocke mit dem Zweifachschlag den Beginn der zweiten Stunde verkündete. Um die Kirche herum stand der Rasen unter Wasser; ein See lag auf dem Kirchplatz und den abgehenden Wegen vor dem Westportal. Er setzte sich auf eine der drei Bänke im See und blieb mit den Gedanken bei den Eltern, den Brüdern, und was der Vater in seinem Brief sonst noch geschrieben hatte. Eckhard Hieronymus meditierte und ließ den Blick vom Turm zur alten Portaltür mit dem Bogen, zur geschwungenen Klinke mit dem schmiedeeisernen Knauf, zur Türaufhängung mit den langen, aufgeschraubten, kunstvoll gewirkten Scharnieren, die Südfront entlang mit den drei buntgläsernen Kirchenfenstern der mittleren Höhe streifen. Er sah in alte Lindenbäume, von denen einige die Kirche säumten, sah in die vollblättrigen Kronen hinein, aus denen das Wasser tropfte. Der Kirche gegenüber stand das zweistöckige Haus, in dem der Konsistorialrat unten das Büro und oben die Wohnung hatte. Ein Fenster im Parterre stand offen; da hinein schickte Eckhard Hieronymus Dorfbrunner einen Teil seiner Gedanken, die dem inhaltsdürftigen Fünfzeilenbrief mit dem handgeschriebenen Zeilenzusatz mit der Interessensbekundung an der zu haltenden Predigt über den 1. Korintherbrief, 8. Kapitel, galten. „Ich werde die Predigt halten“, schrie er im Geiste über den Kirchplatz dem Konsistorialrat in das eine, dann in das andere Ohr, dass sich dieser Herr, der im Körperbau mehr untersetzt war, als ihm lieb sein mochte, in seinem Schreibtischstuhl zurücklehnte und große Augen machte. Überhaupt war der Rat dem angehenden Pfarrer mit der verordneten einjährigen Probezeit zum halben Monatsgehalt nicht gerade sympathisch. Die Sympathie verscherzte sich der kurze Rat mit dem Lic. vor seinem großformatig gedruckten Namen im Briefkopf durch sein lehrerhaft wichtigtuerisches Auftreten mit der nicht aufzuhaltenden, bis auf den Geist gehenden, belehrenden Geschwätzigkeit. Hätte er die Weisheit des Zuhörens, das Gespräch könnte durchaus fruchtbar sein. Es waren der verlorene Weltkrieg, der so viele Opfer gekostet hatte, der Verrat an den hohen vaterländischen Idealen, der Besorgnis erregende Zustand der Eltern, die Ungewissheit, ob die Brüder noch lebten, wenn ja, wie sie wohl zurückkehren würden, die Schwangerschaft seiner Frau mit dem zu rwartenden Zuwachs, wenn keine Probleme zwischendrin auftreten, die Situation als Pfarrer der zweiten Pfarrstelle auf Probe mit dem halben Monatsgehalt, und die Predigt am kommenden Sonntag, die ihn beschäftigten, so stark beschäftigten, dass er es zu spät bemerkte, als das Wasser bereits in seine Schuhe drang. Er sah über das Wasser und kam sich auf der Bank wie auf einer einsamen Insel vor, die für ihn zurückgelassen war, wo er keinen ansprechen oder um Rat, oder gar um Hilfe fragen konnte. Doch das hatte er von seinem Vater, dem Oberstudienrat Georg Wilhelm Dorfbrunner gelernt, der ihm da einige Beispiele aus seinem Leben nannte, dass in einer schwierigen Situation nicht mit der Hilfe anderer, in Ausnahmefällen vielleicht mit einem guten Rat von Menschen zu rechnen sei, die oft nicht einmal angestammte Freunde waren. So saß Eckhard Hieronymus Dorfbrunner noch auf der Bank, als die Kirchenglocke ihre vier Schläge tat. Das Wasser stand in den Schuhen, in den Zehen kribbelte die Kälte, und im Kopf überschlugen sich die Gedanken im Salto mortale. Er trat den Rückweg an, stapfte durch das Wasser, zog sich die Mütze tief in die Stirn, steckte die Hände tief in die Jackentaschen und nahm den Weg, auf dem er gekommen war. Beim Wassertreten über den Kirchplatz ist ihm entgangen, dass der Konsistorialrat aus dem Fenster schaute, wobei er ihn gesehen haben musste und sich seine Gedanken machte, was denn der neue Pfarrer auf Probe auf dem Kirchplatz suchte, der doch weit und breit unter Wasser stand.

      Es waren wenige Menschen unterwegs, die meist Frauen mit Körben und Taschen waren, weil es zum Austausch der Männer in den Gruben, dem Schichtwechsel, erst gegen fünf kam. Ohnehin gab es mehr Frauen als Männer in der Stadt, weil viele der Männer, der Väter und Söhne, wenn sie sich nicht im ersten Kriegsjahr freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet hatten, später, als die Zahlen der Toten bereits ins Astronomische gingen, per Befehl zum Kampf mit der Waffe einberufen wurden. Die Einsicht kam spät, dass die Siegeszuversicht, wie sie Ludendorff und andere Generäle verkündeten, nicht mehr als eine Parole zum Durchhalten im gnadenlosen Kampf an der Front, im Spenden des restlichen Goldes und der sonst noch verbliebenen Wertsachen für die vaterländische Sache, und vor allem zum Durchhalten des Hungers und der rapide zunehmenden Armut. Die Zuversicht gründete sich auf ein Kartenhaus der falschen Tatsachen und wäre geräuschlos zusammengeklappt, wenn die Wahrheit zur rechten Zeit erkannt worden wäre. Nun kam sie zu spät, viel zu spät, und mit fürchterlichen Schlägen. So war es kein Wunder, dass etliche der vielen Männer nicht mehr in die Stadt zurückkehren würden. Das war den ernsten, teils melancholischen, teils depressiven Frauengesichtern ebenso anzusehen wie den blassen Faltengesichtern der Alten, die es meist stumm ertrugen, dass ihre Söhne auf den Schlachtfeldern blieben. Es waren die Alten, die das Leben bereits verbraucht hatte, die sich nun um die jungen Familien kümmerten, mit ihnen das Letzte des Ersparten teilten und sich den schulischen Aufgaben der Enkelkinder widmeten, wenn die Mütter als Haushaltshilfe in Häusern der gehobenen Mittelklasse, als Putzfrau in Büros oder als Serviererin oder Barfrau verdingten oder als Animierdame mit den animierten Folgen den Lebensunterhalt, mehr schlecht als recht, bestritten. In Anbetracht der Armut, die epidemische Ausmaße angenommen hatte, mit dem schneidenden Schmerz von Verlust und Hunger verwunderte es nicht, dass die Zahl der Jugendlichen mit den Kindergesichtern in erschreckendem Maße zugenommen hatte, die da in die Schächte untertage befördert wurden, um die Quoten der Kohleförderung in etwa zu halten. Es gab wieder Kinderarbeit in den Gruben, obwohl mutige Leute, wie der linksliberale Abgeordnete, der Anthropologe und