Eckhard Hieronymus Dorfbrunner hatte den Text seiner Jungfernpredigt seiner jungen Frau am Abendbrottisch vorgelesen. Er schaute auf die geschriebenen Bögen, die er in der Hand hielt, herab und schwieg. „Du bist ein starker Prediger“, sagte Luise Agnes, „deine Worte gehen unter die Haut, sie rütteln auf, machen Feuer an den Nerven; du entzündest die Lunte, die zum Herzen geht. Großartig, wie Du das 8. Kapitel aus dem 1. Korintherbrief auslegst. Der Apostel Paulus hätte seine Freude an dir.“ „Das ist maßlos übertrieben“, wehrte ihr Mann ab, „an die Wortgewalt des großen Apostels komme ich doch nicht heran. Ich bin doch ein kleines Licht gegenüber diesem Feuerriesen.“ „Du bist maßlos in der Untertreibung“, widersetzte sich Luise Agnes, „inhaltlich hast Du gesagt, was zu sagen ist; deine Sprache ist für jedermann verständlich und bildlich dazu. Ich habe die Gesichter vor mir gesehen, denen Du die Maske der Scheinheiligkeit und Unbekümmertheit runtergezogen hast; auch deine Worte haben ins Fleisch der Falschheit geschnitten. Was erwartest Du mehr von einer Predigt?“ „Du sprichst die Gesichter an, denen die Masken runtergezogen wurden. Glaubst Du nicht, dass der Konsistorialrat an der Demaskierung der Gesichter Anstoß nimmt?“ Luise Agnes dachte nicht lange nach, als sie sagte, dass der Wahrheit die höchste Priorität zu geben sei. Da kannst Du von der Falschheit sprechen, die bei so vielen auf den Gesichtern abzulesen ist. Wenn daran der Herr Konsistorialrat Braunfelder Anstoß nimmt, dann ist das seine ganze persönliche Sache. Denn an Eitelkeiten darf sich der Prediger weder aufhalten noch stören lassen, denn schließlich geht es um das Wort, hier um das Pauluswort im 1. Korintherbrief.“ Eckhard Hieronymus sah seine Frau mit großen Augen an. „Du entpuppst dich ja als eine Kämpferin; ich finde das großartig. Ich glaube, dein Kämpfertum würde dem Apostel Paulus sicherlich mehr gefallen als der Text meiner Predigt.“ „Nun übertreibst Du, denn auch deine Worte sind an Klarheit und Schärfe nicht zu überbieten. Und das darf ich dir sagen, dass der, der das Wort Gottes in den Mund nimmt, vor nichts und niemanden Angst haben soll. Denn er braucht den Mut, die Dinge wieder ins Lot zu setzen. Das ist Aufgabe genug.“ „Du würdest also mit dem Text übereinstimmen“, sagte er mit einem fragenden Blick. „Voll und ganz! Besser und kürzer wären die Probleme nicht aufzuzeigen; die Schlichtheit der Antwort ging unter die Haut. Der letzte Satz, dass wir zur Demut zurückkehren und den Herrn um seine Gnade bitten sollen, wird die Herzen bewegen.“ Mit dieser Feststellung seiner Frau gab sich Eckhard Hieronymus zufrieden. Er aß das Abendbrot mit Erleichterung zu Ende; Luise Agnes goss ihm die zweite Tasse Tee ein und rührte den Zucker im hellen Porzellanklang der Tasse um.
So ging ein Tag zu Ende, der im Zeichen der schrecklichen Erkenntnis des verlorenen Weltkrieges mit all seinen Opfern, den unübersehbaren, fürchterlichen Folgen und im Pauluswort des 8. Kapitels des 1. Korintherbriefes stand. Eckhard Hieronymus hatte seine Predigt zu Papier gebracht, und Luise Agnes hatte dem Text ihre Zustimmung gegeben. Der Tag klang aus mit dem 1. Brandenburgischen Konzert auf dem Plattenteller, bei dessen Wiedergabe die Nadel des Tonarms in regelmäßigen Abständen in den Rillen quietschte. Die weiße Wolldecke, die dem Nachwuchs galt, war fast fertig; da hatte Luise Agnes ihre Geschicklichkeit bewiesen, die bei der Häkelarbeit oft an das Kind und die Welt dachte, in die es wohl hinein geboren würde. Eckhard Hieronymus blätterte während des Zuhörens im Schlesischen Anzeiger und las die ersten Seiten mit den Artikeln über die Streitereien im preußischen Landtag und die politischen Veränderungen im Lande mit dem Linksrutsch in der Parteienlandschaft, aus der die Stimmen zur Abdankung des Kaisers und der Bildung einer Republik immer lauter wurden. Auch las er mit Gründlichkeit die Todesanzeigen, wie er es von jeher tat. Da füllten sich die Spalten mehr und mehr; es waren vorwiegend die Männer im jungen Alter, jene die auf den Schlachtfeldern geblieben waren, denen nun das ehrende Andenken galt mit dem abschließenden „Ruhe in Frieden!“ Die Namen, die dem Verblichenen den Frieden wünschten, waren aufgrund der jungen Jahre, in denen das Leben so plötzlich zu Ende ging, die Eltern mit den noch verbliebenen Kindern. „Da gibt es viel zu tun“, und er dachte bei der Vielzahl der Anzeigen an die Beerdigungen, die der geistlichen Begleitung mit den Worten der Erlösung und dem gemeinsamen Gebet über dem weiß und merkwürdig anders, weil so jenseitsfriedlich und jenseitssprachlos im Sarg Liegenden [man hörte nicht den leisesten Ruf nach der Mutter, nicht einen Namensruf; man hörte kein Klopfen gegen den Sargdeckel: „wartet, es ist noch nicht soweit!“], und definitiv Diesseitsverstummten vor der Grabzuschüttung bedurften, sondern auch an die wachsende Zahl der Hinterbliebenen in ihrer Ratlosigkeit und Verzweiflung, um die sich seelsorgerisch gekümmert werden musste. Nun war es so, dass die meisten der jungen Männer an der Front des unnatürlichen Todes gestorben waren, die aufgrund der Vielzahl und der Schwere der Verstümmelungen gar nicht mehr zu identifizieren waren. Ihnen wurde, wie es in Kriegen nach dem Abschlachten von Menschen üblich ist, das Massenbegräbnis ohne Sarg und ohne geistliche Begleitung zuteil. Deshalb war bei der Vielzahl der Anzeigen in der Donnerstagsausgabe des Schlesischen Anzeigers nicht mit der entsprechenden Zunahme geistlich zu begleitender Beerdigungen auf dem städtischen Friedhof, der von der Elisabethkirche in Sichtweite lag, zu rechnen.
Totensonntag
Draußen herrschte die trübe Stimmung. Drinnen in den Häusern und noch weiter drinnen in den Herzen der Menschen war die Stimmung nicht besser. Das Wetter war regnerisch und kalt. Den Menschen fröstelte es außen in ihrer dürftigen teils zerlumpten Kleidung und innen durch die Ungewissheiten, die der verlorene Krieg mit seinen hereinbrechenden Folgen über sie wie ein großes Unwetter ausschüttete. Die Menschen kamen sich verraten und verloren vor, das sah man den herben Zügen ihrer Gesichter an. Sie kamen sich so sehr verloren vor, dass sie eigentlich gar nicht mehr sprechen wollten, besonders über die Verlorenheit nicht. Selbst beim Grüßen taten sie sich schwer, vom freundlichen Gruß ganz abgesehen, was Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, wenn er durch die Stadt ging oder von der Wagengasse 7 den direkten Weg zur Kirche nahm, oder von der Kirche auf dem Heimweg war, schmerzlich empfand. „Wie wollen die Menschen nur das Gotteswort aufnehmen, wenn sie die Trauer, die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit so plagt, sie so steinhart macht, dass alles an ihnen abprallt, egal, ob es ein freundlicher Gruß, ein Wort des Helfenwollens oder ein Gefühl der Mitmenschlichkeit, der Geste menschlicher Zuneigung war“, dachte er, wenn er grüßte, ohne dass der Gruß erwidert wurde. Solche Verhärtungen waren schädlich; sie waren die denkbar schlechteste Voraussetzung, den verkrämten und in sich zusammengerollten Menschen, die sich aus dem Verband der kleinen städtischen Gesellschaft absonderten, weil sie sich ausgestoßen fühlten, und sich mit Händen und Füßen „verteidigen“, sich nach Kräften der Eingliederung ins Leben der Gemeinschaft widersetzten, mit einer Predigt zu kommen. Jeder fühlte sich auf seine Weise verraten und verkauft; das in Bezug auf die einstigen Ideale für das Vaterland mit der Opferbereitschaft und auch auf die gebrachten Opfer mit der Weggabe der Wertsachen, die zum Teil Erbstücke waren. Die große Armut trug zur großen Lähmung beträchtlich bei. Den kinderreichen Familien fehlte das Geld für Nahrung und Heizmaterial in dieser kalten Jahreszeit. Die Folgen waren verheerend. Der Anblick der abgemagerten Kinder in ihrer zerlumpten Kleidung mit dem zerrissenen Schuhwerk, wenn sie ein