Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut Lauschke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738049961
Скачать книгу
dem einen oder anderen, seitlich und nach oben weggerutschten Auge mit dem lang gezogenen Mongolenschlitz entfernt waren. Auch gab es Fäden mit der elastischen Ziehstrippe, die nach unten gezogen wurden und beim Loslassen von allein nach oben zurückschnellten, Fäden, die, wenn unten keine Klingel dran war, um die Küchenfee zum Wechseln der Teller oder zum Abräumen des Tisches zu rufen, vielfache Verwendung bei Puppenspielen oder ernsterem Theater mit Puppen Verwendung fanden, weil man das Strippeziehen mit dem automatischen Zurückschnellen beim Loslassen mit richtigen Menschen nicht machen kann.

      Der Versuch, doch noch etwas Schlaf zu finden, wurde zur Versuchung mit einer Berg- und Talfahrt, dem Rauf und Runter mit dem Riesenrad, dem schaukelnden Hin und Her auf der Achterbahn. Die Versuchung kam auf, nachdem er sich so gut wie sicher war, dass er seinen Beruf liebte, er den richtigen Beruf gewählt hatte, er nicht nur ganz, sondern auch fest im Glauben stehe und als Pastor dem Herrn dienen, die Heilsbotschaft weitergeben und den Menschen einen guten Dienst erweisen werde. Er sehe ihre Irrwege und versuche mit aller Kraft, sie vor dem Absturz zu bewahren und auf den richtigen Weg zurückzurufen, die Schwächsten, die Blinden, Tauben und sonstwie Sprachgestörten, die Witwen und Waisen, die Verkrüppelten und was es sonst noch an Behinderten gab und alle, die sich verloren glauben und feststeckten, dabei unter die Arme zu greifen und sie, wenn es sein muss, auf den Wagen des Heilsbotschaft zu heben und den vollen Wagen zu schieben oder zu ziehen, bis sie das Licht sehen und im Licht die gute Botschaft erkennen. Die erste Frage, die ihm in der Versuchung gestellt wurde, war die, ob er denn kräftig genug sei, um so viele Menschen von den Irrwegen zurückzuholen und auf den richtigen Weg zu führen, kräftig genug, so viele Menschen auf den Wagen zu heben und sie vor dem Abgrund zu bewahren, indem er den vollgeladenen Wagen vom kritischen Spalt wegschiebt oder wegzieht, was um so schwerer sein würde, wenn die Räder bereits im Morast stecken. Die zweite Frage war die mit der Freiheit des Menschen, ob der Mensch denn nicht für sich selbst entscheiden könne, welchen Weg er gehen wolle, der beim Treffen der Entscheidung nicht bevormundet werden will. Diesbezüglich sei schon genug Unheil angerichtet worden, wenn um Glaubensdinge Dekrete erlassen, Kriege geführt und Millionen gutgläubiger Menschen enthauptet, verbrannt oder anderswie auf bestialische Weise getötet wurden. Schließlich habe die Menschheit, zumindest auf der westlichen Halbkugel, dem Okzident, die Schwelle der Aufklärung überschritten, beschäftige sich bereits eingehend mit der Materie, treibt eine fortgeschrittene Mathematik und Physik, denkt existenzphilosophische Exkursionen durch und hat es zu wissenschaftlichen Erkenntnissen gebracht, die atemberaubend sind und bis vor kurzer Zeit undenkbar waren. Die dritte Frage ging um die Beweisführung, dass der christliche Glaube der richtige sei, obwohl er doch über der Vernunft throne, unantastbar für jegliche Kritik und dem Verständnis trotz Zuwendung der hoch entwickelten Intelligenz enthoben ist.

      Mit den Versen des 8. Kapitels aus dem 1. Korintherbrief im Kopf, um dessen zeitgemäße Auslegung sich Eckhard Hieronymus für seine Jungfernpredigt am bevorstehenden Sonntag bemühte, ja um sie rang, weil er an diesem Text vom Superintendenten und Konsistorialrat Braunfelder gemessen würde, wie sich der Herr Konsistorialrat ausdrückte, kam nun außer der Mitteilung, dass er, wenn alles gut verläuft, in einigen Monaten Vater werden würde, die erneute Versuchung mit den drei Fragen hinzu, die jede für sich einem Gebirge gleichkam, an dem man hangeln und klettern, den Gipfel besteigen und abstürzen konnte. Es waren gewaltige Massive von großen Höhen, die nicht zu übersehen, geschweige denn wegzuschieben oder einzuebnen waren. Die Fragen zusammengenommen waren Ausdruck hoher Intelligenz mit der dialektisch schillernden Freude an der wissenschaftlichen Analyse, waren gleichzeitig aber auch Beleg für die rasante spirituelle Vereinsamung und Verarmung mit der Bodenlosigkeit bei der Glaubensverwälzung, wo der Glaube als kindlich naiv, unzeitgemäß, reaktionär bezeichnet, abgetan, über den nächstbesten Hang weggeschoben, weggerollt, der Gläubige in seinem Bekenntnis als Dummkopf oder als nichtintellektueller Schwachkopf verlacht und verspottet wird. Es ging an die Substanz, denn wieder musste hart gerungen werden. Dazu kam die Falle mit der Freiheit, die der moderne Mensch für sich in Anspruch nimmt, als wäre sie sein persönliches Eigentum, der sich selbst für seinen Weg entscheidet, was immer er unter Entscheidung versteht. So stand der hohe „intellektuelle“ Weizen den verfaulten „spirituellen“ Kartoffeln gegenüber. Es war das Babylon der Neuzeit, und Eckhard Hieronymus hörte den Engel sagen: „Komm, ich will dir das Gericht über die große Hure zeigen, die an vielen Wassern sitzt, mit der die Könige auf Erden ihre Unzucht treiben. Die, die auf Erden mächtig sind, trinken vom Wein ihrer Unzucht.“ Der Engel trug ihn in die Wüste, wo er die Hure auf einem scharlachroten Tier sitzen sah, das viele lasterhafte Namen, sieben Häupter und zehn Hörner hatte. Es war eine schöne, verführerische Frau, deren seidene Kleider mit Purpur und Scharlach bestickt und übergoldet waren, dazu mit Perlen und Edelsteinen besetzt. Sie hielt den goldenen Becher in der Hand, der voll Gräuel und Hurenflat war. Auf ihrer Stirn trug sie den Namen Babylon, und sie war die Mutter der Hurerei und aller Gräuel. Eckhard Hieronymus erschrak, als er sah, dass diese Hurenmutter vom Blut der Heiligen, der Zeugen des Herrn Jesus Christus, trank. Da sprach der Engel zu ihm: „Verwundere dich nicht, ich will dir das Geheimnis des Weibes und des Tieres verraten. Das Tier, das du gesehen hast, wird aus dem Abgrund emporsteigen und in die Verdammnis fahren. Es wird die Mächtigen und alle die mitnehmen, deren Namen nicht im Buch des Lebens stehen. Das ist der Sinn, zu dem die Weisheit gehört! Die sieben Häupter sind die sieben Berge, auf denen die Hure sitzt, und die zehn Hörner sind die zehn Könige, die ihr Reich nicht empfangen, aber die Macht empfangen für eine Stunde mit dem Tier. Diese Könige sind schlecht, weil sie sich dem Tier überlassen, aus dem sie ihre Kraft und Macht nehmen. Sie werden gegen das Lamm streiten, doch das Lamm wird sie überwinden, weil das Lamm der Herr ist, der über allen Königen steht. Und die, die sich zum Lamm bekennen, sind die Auserwählten dieses Herrn.“ Eckhard Hieronymus drückte die Hände fest ineinander; ihn überkam die große Furcht vor dem Herrn, weil er sich vor der Macht des Tieres fürchtete, das nur das Lamm bezwingen und zähmen kann. Angstschweiß stand ihm im Gesicht. Dann sagte die Stimme: „Die Wasser, an denen die Hure sitzt, das sind die Völker mit den vielen Sprachen, und die zehn Hörner und das Tier werden die Hure hassen, ihr Fleisch essen und den Rest von ihr verbrennen. So hat es Gott in ihre Herzen gegeben, das zu tun, was er beschlossen hat, auch das Reich dem Tier solange zu geben, bis sein Wort erfüllt ist. So ist die Hure, die du siehst, die große Stadt Babylon, die über die anderen Könige herrscht.“

      Eckhard Hieronymus hatte die Augen weit geöffnet, sah den Lichtstreifen, der durch das halb geöffnete Fenster fiel, an der Schlafzimmerdecke, kehrte aus dem fürchterlichen Babylon zurück und in den Korintherbrief ein. E r lispelte die Worte vor sich hin, um Luise Agnes nicht aus dem Schlaf zu holen, an der er die Ausgeglichenheit und Ästhetik des ruhigen, gleichmäßigen Atmens noch mehr bewunderte als die Stunden zuvor, bevor er im Halbtraum das Babylon mit seinem Sündenpfuhl durchlebte. Er sprach das 8. Kapitel in sich hinein, wobei das Stufenprinzip: zwei Stufen hoch, eine Stufe runter; drei Stufen hoch, zwei Stufen runter, und so weiter, zur Anwendung kam. So wurden die vorangehenden Verse mit jedem weiteren Vers von Beginn an wiederholt. Eckhard Hieronymus hielt beim Aufsagen das Rauf- und Runterprinzip mit der einstufigen Versetzung deshalb ein, weil er an dem Satz im ersten Vers: „Das Wissen bläst auf; aber die Liebe baut auf.“ hängenblieb und staunte. Es war ein gewaltiger Satz, der als Rammbock gegen die verriegelten Tore der Wissenschaften gebraucht werden konnte, um sich den Zugang zu den Arbeitsräumen mit den Menschen des kritischen Verstandes zu verschaffen. Denn die Zeit war reif, dass die Türen mit Gewalt geöffnet werden mussten, wenn es darum ging, nach den Vermissten zu suchen und nach den Lebenden zu sehen, um sie von den Toten zu trennen, die das Leben nicht mehr brauchen. Er dachte, was so verkehrt nicht war, dass er durch ständige Wiederholung den Satz mit dem Hammerschlag besser verstehen lernte. Er hatte sich nur zum Teil getäuscht, weil er nach der Lispelrezitation und noch im Bett liegend mit der Meditation begann, indem er den Einleitungssatz vom Wissen und von der Liebe gedanklich nach allen Himmelsrichtungen hin rezitierte und dabei das Verfahren des fahrenden Aufzugs ohne Tür, dem Paternoster, für eine lange Zeit einhielt, dass er die Frage, die er sich am Morgen selbst stellte, nämlich die Frage nach der Zeitdauer, die er im Paternoster verbracht hatte, nicht beantworten, ja nicht einmal abschätzen konnte. Der Begriff der Liebe war der Kern. Die Liebe will begriffen und getan werden, dann baut sie den Menschen auf. Dagegen ist das Wissen klein, das weniger getan als vorwiegend verstanden und geredet wird. Wieder stand vor ihm das Bild des hohen „intellektuellen“ Weizens und der verfaulten