»Hat sich doch jeder gedacht, ich treff die Fritzelshues«, sagte Jordan Ganter. »Das war's vermutlich, weswegen sich keiner wirklich, mit Nachdruck beschwerte. Ich hab auch gehofft, ich krieg sie vor die Flinte. Dreh mich nur kurz um, tu so, als wüsste ich nicht genau, was ich da mache und zack, hab ich sie!« Ganter redete sich in Rage.
Max bremste ihn mit einem leisen Lächeln aus.
»Nee, es wär nicht gegangen. Die Fritzelshues lässt sich auf der Schießanlage nicht blicken. Die ist vorsichtig. Nicht blöd.« Aus dem Hörer raschelte etwas. Ganter putzte sich die Nase.
Der dritte Ausflugsort, jener, der dem Altenheim pro Jahr einen Kurzausflug in der frühlingshaften Vorsaison wert war, befand sich im Sauerland, in Mittelastenberg, nahe des Kahlen Astens, dem beliebten Ausflugsziel für Skifahrer aus dem Flachland, also Holland. Holländer hielten sich in dieser für Wintersportler zu späten Jahreszeit nur noch bedingt im Sauerland auf. Die Schneedecken waren vielerorts auf den Pisten weitgehend geschmolzen, die echten Flocken, wie auch jene per Schneekanone hochgeschossenen. Vereinzelte weiße Haufen pappiger Eiskristalle im saftigen Grün des frühen Jahres, von Dreck und Streumitteln überzogen, wirkten wie Schmutzflecken in der ansonsten tadellosen Landschaft. Die Bewohner des Altenheims brachen in die vorübergehende Stille des Ferienortes kaum lebhaft, nur als Störfaktor ein, gehörten sie eben nicht zu den gewollten Besuchern dieser Urlaubsgegend, die eine betuchtere Klientel bevorzugte.
Max Heiliger hörte sich die Zustände während des Aufenthaltes der alten Leute in Mittelastenberg genau an. Die Ausflugsziele interessierten ihn. Der Kahle Asten, keine tausend Meter hoch, aber immerhin ein Berg, bot mit seiner zentralen, dennoch entlegenen Stellung eine faszinierende Gelegenheit für einen Coup, wie Max ihn beabsichtigte. Im Winter war die abgeflachte Spitze ein beliebtes Ziel. Bei wärmeren Temperaturen war die Aussicht weit. Sie bot den meisten Besuchern darüber hinaus den einzigen Anreiz für eine Fahrt auf den Berg, erläuterte Jordan Ganter. Max hörte genau zu. Der Ablauf eines Tagesausflugs dorthin war jedes Mal der gleiche. Hilda Fritzelshues gefiel dieses Ziel anscheinend und gesellte sich auch zu den Ausflüglern, ohne Schlaginstrument, dafür mit einem gebleckten Gebiss, das ausreichte, um auch dem standhaftesten Zinnsoldaten Angst einzujagen. Sie verhielt sich wie ein Hütehund zu seiner Schafherde, schnappte nicht, dafür rempelte sie. Auf den unebenen Wanderwegen, auf denen gutes Schuhwerk Pflicht war – und keiner der Heimbewohner verfügte über dergleichen – spielte sie ihr eigenes Kegeln, brutaler als jenes, das abends, zivilisierter und regelgerechter auf einer Bahn in Mittelastenberg für die Heimbewohner organisiert wurde. Wer fiel, schabte sich die Handflächen auf, zerriss seine Hosenbeine, oftmals ohnehin dünn und zertragen, und quälte sich mühsam wieder auf die Beine, meist ohne Hilfe. Fritzelshues gefiel es so.
Rage und Hüten. Über die Rage gewann Max seinen Auftraggeber für seinen Plan. Wer daran gedacht hatte, die Fritzelshues über den Haufen zu schießen, so die Überlegung, werde auch als Köder dienen, ein Zustand, der von Jordan Ganter nichts anderes verlangte, als die Fritzelshues von der Herde zu trennen und sich lockend zu präsentieren, damit Max den ungeschützten Rücken des »Teufels in Weiß«, wie ihr Spitzname nun immer häufiger im Gespräch fiel, angehen und die Frau niederstrecken konnte. Den Schlag, gut dosiert, wollte er im Augenblick der Überraschung ausführen und sollte – musste unbedingt – von vorne erfolgen.
»Haben sie ein Problem, den Mord vielleicht zu sehen?« Wie viel Schock war Jordan Ganter zumutbar? Was konnte der Mann ertragen, bevor er sich anders entschied und Max möglicherweise verriet?
»Ich kann was ab«, entgegnete Ganter übermütig. Offensichtlich von der eigenen Antwort irritiert, runzelte er nachdenklich die Stirn. »Hätten Sie mich das vor einem Jahr gefragt ...« Er sah auf seine leicht zitternden, gefalteten Hände, die eine andere Antwort gaben. Nein, hieß das. Nein. Nein. Nein! Niemals! In diesem Leben nicht!
Max begriff die Geste und hielt Ganters zitternde Hände fest.
P wie Pause. P wie Perfektion. Utz Entle hatte zu beiden Begriffen eine eindeutige Empfehlung und Meinung. Die Pause gestattete es dem angehenden Mörder, die mörderischen Absichten zu überdenken und, gegebenenfalls, zu ändern oder zu verwerfen, falls die Angst Oberhand gewann oder sich die Überlegungen als hanebüchen herausstellten. Dies brachte den Oberst a. D. zur Perfektion. »Sie wird in vielerlei Disziplinen gesucht. Überall dort, wo alle Faktoren bekannt sind, im Vorfeld herausgefunden werden können, wo die Absolvierung von Testläufen den Plan überprüfbar macht, Simulationen vor der eigentlichen Prozedur Sicherheit für eine perfekte Umsetzung versprechen. Doch dann und besonders dann, wenn menschliche Faktoren ins Spiel kommen, natürliche Unwägbarkeiten eine Rolle spielen – und sei es nur das Wetter – können Sie nicht mehr auf Perfektion hoffen. Ein getürkter Unfall oder ein scheinbar natürlicher Tod sind Auswege aus der Perfektionsbredouille. Mit Tarnung können Sie über einen Mord hinweg täuschen. Einen Ansatzpunkt zur Aufklärung der Tat wird immer zurückbleiben. Über die Überraschung kann eine Tat verschleiert werden. Nicht jede Tat, die unwahrscheinlich scheint und als letzte Variante eines Ablaufs übrig bleibt, wird auch mit einer romantisch–bellestristischen Hartnäckigkeit verfolgt werden. T wie Tarnung geht mit P wie Präsentation einher. Präsentieren Sie eine Lösung – L wie Lösung, mehr auf Seite 468 – die naheliegend, nicht allzu offensichtlich scheint. Geben Sie den Ermittlern ein Erfolgserlebnis.«
Max versprach, sich rechtzeitig zu melden und weitere Einzelheiten mit Ganter zu besprechen. Von seiner Absicht, den Tatort in Augenschein zu nehmen, sich eine gute Stelle zu suchen, auch alternative Plätze, um für Eventualitäten gewappnet zu sein, erzählte er zu diesem Zeitpunkt nichts. Er betonte nur, er werde sich eingehender mit Hilda Fritzelshues beschäftigen. Diese war kein Kraftpaket wie ein Cornelius Deller, nichtsdestotrotz schien ihm die Suche nach Schwachstellen des Zielobjektes wichtiger denn je.
Nach dem Weihnachtsfest, besinnlich und gemütlich verbracht, mit einer Emilie, die er milde gestimmt hatte, packten sie zwei Koffer, ausgestattet mit Rollen, so dass Max sie über den Bürgersteig ziehen konnte. Am Bahnhof setzten sie sich in eine S–Bahn, zuerst nach Dortmund und dort in eine Regionalexpress–Verbindung ins Sauerland. In Winterberg angekommen, nahmen sie einen Bus nach Mittelastenberg.
»Riechst du das?« Max blieb am Rande der kleinen Ortschaft stehen. Ein schneebedeckter Hang, unter dem sich eine Weide befand, die eine Scheune und eine Kuhtränke in der Nähe vermuten ließen, gab den Blick auf eine zu beiden Seiten weitläufige Waldfläche frei, hinter der sich der Kahle Asten erhob. Die Luft war kühl und erfrischend, sie roch klar und rein. Die verminderten Sinne Emilies mussten, so hoffte es Max inständig, die Veränderung in der Umgebung wahrnehmen. Die Stille, dank der nur vereinzelten Automobile, die ihren Weg hin zur Pension fanden, gellte in den Ohren. Plötzlich fehlte die gewohnte Geräuschkulisse von Keysaburg. Das wüste, öde Grau der Straßen tauschte mit dem satten, dunklen Grün des Sauerlands. Max wollte gerne hier bleiben.
»Ist es schön?«, fragte Emilie auf einen befriedigt klingenden Seufzer von Max hin. »Es ist wunderschön.« Er schaute sich lange um. Die Kälte kribbelte auf der Haut des Gesichts, rötete sie auf angenehme Weise. Max sah Emilie an. »Wir haben Urlaub, Schatz.«
Sie nickte. Ihre suchenden Finger glitten seinen Ellenbogen zu seiner Hand hinab.
In den nächsten Stunden und Tagen versuchte sich Max weltmännisch zu geben und sich nicht anmerken zu lassen, wie ungewohnt er es fand, bedient zu werden und sich ein Gefühl der Peinlichkeit einstellte, sobald ein Teller abgeräumt, ein Getränk gebracht oder das Bett wie von Zauberhand bei ihrem Eintritt in