Auf der Fensterbank leuchtete ein Plastikweihnachtsbaum, einen halben Meter hoch, mit kleinen gelben, grünen und roten Glühbirnen ausgestattet. Das Fenster selbst hatte Max mit grasgrün glänzendem Flitter umkränzt. Auf dem Tisch stand ein Adventskranz, aus Kunststoff, mit roten Seidenimitatbändern gegürtet, schief in Schleifen gezogen. Max Heiliger hatte sein Bestes gegeben. Oben auf dem Kranz glimmten vier noch kleinere Glühbirnen als am Weihnachtsbaum, flammengleich zuckend, ankündigend, das Christkind käme bald. Seine Frau saß ihm gegenüber. Sie hatte ihm zum Lottogewinn Fragen gestellt, freundliche und glückliche. »Dann wird das ein schönes Weihnachten?«, hatte sie gefragt.
»Ein sehr schönes«, hatte Max ihr geantwortet. Er bedauerte es, dass sie seine Dekoration nicht sehen konnte. Dafür duftete es aus dem Ofen, wo er gekaufte Plätzchen sachte aufheizte. Backen konnte er nicht, wollte jedoch die Illusion hingegen so realistisch wie irgend möglich gestalten. Dazu gehörten Weihnachtsplätzchen, die besten, die zu kaufen waren.
Emilie wusste um die Haushaltsfertigkeiten ihres Mannes genau. Jahrzehntelang hatte sie die Wohnung gehütet, eine andere noch, geräumigere als diese, ausgestattet mit einem Arbeitszimmer, wo sie die Schularbeiten in aller Ruhe korrigierte und von eigenen Kindern träumte. Der Haushalt war zügig von der Hand gegangen, da Max beruflich viel unterwegs war. Männer, die selten daheim waren, sorgten auch nicht für Dreck und Unordnung in der Wohnung. An den Wochenenden erholte sich ihr Max, rührte sich draußen auf Spaziergängen mehr als drinnen. Die Liebe fand im Bett statt, die Nahrungsaufnahme in gutbürgerlichen Lokalen, die Unterhaltung noch in Theatern und Kinos. Erzieherisch sicher, wie es ihrer Berufstätigkeit entsprang, hatte sie für eine genau dosierte Mischung aus Bildung und Unterhaltung gestimmt und bekommen. Es war eine schöne Zeit gewesen. Der Kinderwunsch kam und ging, zeitweilig eitrig brennend, abebbend in gemeinsamer Langeweile und der Ernüchterung, dass da sonst nicht mehr viel auf sie beide warte. Die Blindheit war ein Schlag ins Gesicht. Sie kam nach der Pensionierung, da man noch einmal alles hätte genießen können, was da draußen so für das Alter versprochen wurde. »Die Plätzchen«, sagte Emilie. »Sind sie schon gut?«
Max zog das Blech aus dem Ofen und drehte die Temperatur herunter. Er blies über die geöffnete Ofenklappe, damit kein Krümel das neue Küchengerät vorzeitig ruinierte. »Sind gut«, erwiderte er mit fachmännischem Unterton. All die Fernsehköche sprachen so. Das Plastikgeschirr – mit weihnachtlichen Abbildungen darauf, das hatte er ihr verschwiegen – enthielt im Set auch zwei Schüsseln, rot und grün gefärbt, mit Putten auf den Rändern. Hierauf verteilte er die Plätzchen und stellte eine Schüssel auf den Tisch, die nächste in Griffreichweite auf die Spüle.
Von Zimtgeruch und Butterduft umzingelt, knusperten sie an ihrem Gebäck, ohne zu bemerken, dass sie von unsichtbarer Seite her beobachtet wurden. Ein metallisches Klatschen auf Holz beendete die traute Zweisamkeit und die Observation aus der Tiefe des Küchenbodens. Eine Mausefalle hatte ihre Arbeit getan, das Stück Käse, als Köder dort platziert, war zerquetscht, das Genick der Maus unter dem Metallbügel ebenfalls. Das Schicksal sprang in diesem Augenblick hinzu. Das Bild, so bedeutungsschwanger, verwandelte sich, und Max bekam eine grauenhafte Idee, die so gar nicht zu der heiligen Stimmung jenes Spätnachmittags im ausgehenden Dezember passte. Eine Maus wollte Käse. Die Falle brauchte einen Köder. Max benötigte einen Köder. Er sah Emilie an, und in diesem Moment bemächtigte sich ein böser Gedanke seiner Seele – den er nicht als solchen empfand – überlagert von dem irrigen Selbstbewusstsein, alles schaffen zu können, von pervertiertem Ehrgeiz, den er tief in sich brodeln fühlte, ehedem zum letzten Mal, als er mit einer Lkw–Ladung zum Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts in die Ukraine geschickt worden war.
Jordan Ganter würde der Köder sein.
»Probier mal die anderen. Hier.« Max reichte ihr ein Plätzchen von der anderen Seite der Schüssel in die offene Handfläche.
Sie tastete eine Handbreit zu einer Tasse Kakao und tunkte das Vanillekipferl in die Flüssigkeit, während er die Maus samt Falle – Max ekelte sich – zuerst in eine gebrauchte Einkaufsplastiktüte warf und das so gefüllte Behältnis anschließend in den Abfalleimer bugsierte. Feiner weißer Zucker schwemmte zu den Seiten von Emilies Tasse weg und vermengte sich mit dem dunklen Schaum der heißen Schokolade. Kurz saugte sie den Kakao aus dem Vanillekipferl, zerbröselte dann nach einem genau festgelegten Ritual die mürbe gewordene Keksmasse mit der Zunge am Gaumen und war erst zufrieden, sobald der gelutschte Brei seine gesamten Aromen im Mund entfaltete. Dann schluckte sie alles herunter.
Max sah das Ergebnis des aktuellen Auftrags noch diffus vor Augen. Der Weg indes war klarer. Da war der Rücken von Jordan Ganter. Der alte Mann ahnte nichts von der Annäherung hinter seinem Buckel. Sein Auftraggeber hatte eindrücklich auf die Gefährlichkeit von Hilda Fritzelshues hingewiesen, im Brief und per Telefon. »Der einzige Grund, der einzige, warum noch niemand von uns durch ihre Hand, warum noch niemand von ihr getötet – verstehen Sie? Der einzige Grund ist, sie fürchtet die Bestrafung! Was hat sie gekuscht bei dem Mann von dieser Folterstelle, wo nach den Misshandlungen gefragt wurde, nichts gefunden wurde, natürlich – man hat sie über den Besuch auch vorher in Kenntnis gesetzt, sagt man doch vor einer Razzia immer Bescheid in diesem, ach – auf jeden Fall, nehmen Sie sich in Acht. Ich kann es nur betonen. Nehmen Sie sich in Acht!«
Es würde nicht einfach werden, Ganter von der Notwendigkeit zu überzeugen, für Fritzelshues das Lockmittel zu spielen. Max wollte Jordan Ganter versichern, dass ihm nichts geschehen werde. Eine Maus kannte Käse. Hilda Fritzelshues benötigte einen Anziehungspunkt, den sie kannte und der es vermochte, sie von den anderen zu separieren, möglichst an gelungen gelegener Stelle. Max hatte mit Ganter über die verschiedenen Aktivitäten der nächsten Wochen und Monate konferiert – das Gesprächsvolumen seines neuen Telefons wurde pauschal abgerechnet, weshalb sie sprechen konnten, ohne auf die Uhr achten zu müssen, wie Max stolz festgestellt hatte – und so waren sehr unterschiedliche Tatorte ins Visier von Max' Überlegungen geraten.
U wie Unfall. N wie Natürlicher Tod. Utz Entle hatte diese beiden Stichworte in die Königsklasse des Mordens einsortiert. »Gelingt es Ihnen, interessierter Leser, einen Mord wie einen Unfall oder einen natürlichen Tod aussehen zu lassen, haben Sie, wenn Sie den Ausdruck gestatten, das Klassenziel erreicht.« So hatte es der Oberst geschrieben. Um dies zu gewährleisten, sei eine umfangreiche Vorarbeit nötig. Recherche und Planung, Beobachtung des Objekts und Abwägung der Mittel. Max war nach den bisherigen Erkenntnissen zu dem Schluss gelangt, den Auftrag nicht zur Gänze allein ausführen zu können. Er benötigte einen Partner, anders ausgedrückt, er musste seinem Opfer eine Falle mit einem realistischen Köder stellen. Der Tatort sollte mit dem Alltag des Ziels wenig zu tun haben, am besten gar nichts. War das Ziel an die Örtlichkeiten gewöhnt, konnte es Veränderungen frühzeitig bemerken und misstrauisch werden. Plätze im und um das Altenheim herum kamen somit überhaupt nicht in Frage. Ein Zeitfenster sollte unabhängig von der Wahl des Tatortes eng begrenzt sein. Je weniger Zeit für die Tat zur Verfügung stand, desto unwahrscheinlicher war ein geplanter oder ungeplanter Mord für den außen stehenden Betrachter.
»Hast du einen neuen Freund?« Emilie biss in ihr drittes Vanillekipferl.
»Einen neuen Freund? Wo soll ich einen neuen Freund herhaben? Ich lern doch keinen kennen.« Max schindete Sekunden.
»Du hast mit einem Jordan telefoniert. Ich hab dich gehört. Ihr ward vertraut miteinander, hatte ich den Eindruck.« Es war ein Winternachmittag, wie Emilie sie seit ihrer frühesten Kindheit mochte. Süßigkeiten, heiße Getränke, vielleicht einen Eierpunsch oder einen Glühwein in erwachsenen Jahren, und sie war versucht, Max danach zu fragen, sträubte sich aber noch, da ihr das Beisammensein im Augenblick perfekt erschien und sie, wie sie sich in warme Watte eingelullt fühlte,