»Der Krösus!«, rief Joseph schnorchelnd. Er schnaufte aus seiner dreimalig gebrochenen Nase und kapitulierte vor der Aufgabe gleichzeitig trinken und durch den Mund atmen zu wollen. Ein Bierfaden lief aus seinem Mundwinkel. Er wischte es mit dem Handrücken fort. »Was is'n das hier? Klaust du jetzt? Oder was?«
Max antwortete nicht, legte wie gewohnt seinen Schlüssel in ein Porzellanschälchen neben der Zimmertür, nutzte die Verzögerung, um nachzudenken und Ruhe zu sammeln.
»Stronzo!«, sagte Joseph in kaum verminderter Lautstärke, ein Schimpfwort in einer anderen Sprache, von dem er hoffte, seine Schwester verstehe es nicht, denn er wollte vor ihr etwas sauberer da stehen, vor allem wollte er seine Schwester sauber halten, die er für reiner als sich selbst hielt, beschützenswert. Und gerade das traute er Max Heiliger seit Jahrzehnten nicht zu. »Idiota!«, schallte es weitaus harmloser daraufhin, auch für Emilie zu verstehen. Josephs Schimpfwortsammlung aus seiner langen Zeit im Rotlichtmilieu war noch längst nicht ausgeschöpft, aber im Sinne der einzigen Verwandten, für die er je Zuneigung, Liebe gar, nicht selten auch Bewunderung empfunden hatte, wollte er auf die harten Geschütze verzichten.
Max nickte bloß, nahm auf dem dritten verbliebenen Stuhl vor Joseph und Emilie Platz, seufzte laut, ein weiteres Mal leiser, nachdrücklicher und holte so tief Luft, wie es die Lungen noch hergaben. »Was willst du, Jupp?«
»Was ich will?! Immer frag ich und hör dann, ich hab nix. Kein Geld übrig. Wir kommen so grad über die Runden, muss ich mir anhören. Und was seh ich? Neues Zeug! Toaster! Kaffeemaschine ...«
»Wir haben eine neue Kaffeemaschine?«, mischte sich Emilie völlig unerwartet in das Gespräch ein. Sie hielt sich ansonsten aus den Streitereien zwischen ihrem Mann und ihrem Bruder heraus.
Eine Kaffeemaschine, einen Toaster, einen Fön, ein Plastikgeschirr für vier Personen aus dem Ein–Euro–Laden, eine neue Brotdose, einen elektrischen Dosenöffner – kein Fragezeichen –, dachte Max. »Ja«, antwortete er kurz angebunden. Die Ausrede war da. »Ich hab im Lotto gewonnen. Nicht viel.« Sicherheitshalber hängte er die beiden Worte an. Sie nähmen Joseph den Wind rechtzeitig aus den Segeln.
»Ist für mich was übrig?«, fragte Joseph dreist, als er die leere Bierflasche auf den Tisch stellte. »Von dem Geld, mein ich.«
Also doch nicht. Max' gedankliches Fazit zog eine plötzliche Traurigkeit hinter sich her, einem Überfall aus dem Hinterhalt gleich. »Nein. Nicht genug jedenfalls. Ich hab was beiseite gelegt. Auf der Bank. Für uns beide hier. Nicht für dich«, verfügte er mit Richterstimme.
Joseph schwieg. Er ballte die Fäuste, froh darüber, dass seine Schwester die instinktive Gestik nicht sah. Dafür knirschte er hörbar mit den Zähnen. »Was soll ich da noch sagen?« Das Abschiedsritual fiel aus, wie so oft, zart gegenüber Emilie, mit einer sanften Umarmung aus der Hocke, einem Kuss auf die Wange, ruppig gegenüber Max, ruppiger als gewöhnlich, einem Fauststüber gegen die Schulter, schmerzhaft direkt auf den Knochen, gefletschte Zähne präsentierend und der leisen Drohung, man sei noch nicht fertig miteinander, gefolgt von einem geflüsterten: »Glaub’s mir!«
Letztere Worte vernahm Max nicht zum ersten Mal, doch scherten sie ihn heute so gering wie noch nie. Er hörte die Türe ins Schloss fallen.
Emilie saß unverändert auf ihrem Stuhl, kerzengerade aufgerichtet, die Ellenbogen angezogen, betende Hände im Schoß liegend. Eine Schluckbewegung verriet ihre Gemütslage, wankelmütig, mal zu dem einen, dann zum anderen Mann in ihrem Leben tendierend.
»Es ist für uns«, sagte Max, und das sagte alles. Es war das Mantra, das er sich noch im Dunkeln, viel später, wiederholte, am Küchentisch mit einer allerletzten Flasche Bier, die Joseph im Schrank unter der Spüle übersehen hatte. »Es ist für uns«, klang richtig, so huschte die Feststellung vorüber. Nicht für diesen Luden, dachte er. Ich mache das für uns. Ich nehme das für uns auf mich. Er variierte den Satz in seinem Kopf im Minutentakt. Vor dem Toaster mit der Edelstahloberfläche lag der Brief von Jordan Ganter. Darüber erkannte Max sein Spiegelbild. »Mörder«, raunte es ihm zu.
Kapitel 4: Zimtgeruch und Butterduft
Kurz vor Weihnachten, dem Fest der Liebe, ordnete Max Heiliger seine Gedanken, in der Küche sitzend, dem Zimmer, in dem er sich am wohlsten fühlte. Es galt den neuen Auftrag zu planen, den vorigen Auftrag kleiner und kleiner zu reden, zu zerkleinern, in viele Stückchen, mit jedem Gedanken daran zu banalisieren, bis Max Heiliger sein – kurzzeitig – gewissenloses Ziel erreichte: ein Hehler tot? – Na, und? – Der neue Auftrag war etwas für Profis. Er war schwierig. Es war eine Frau. Weil Heiner nicht Heiner war, sondern Hilda. Und Hilda war eine Frau. Maria Deller musste sich verhört haben. Oder sie hatte in ihrer Erinnerung etwas durcheinander geschmissen, sinnierte Max voller Schadenfreude und wünschte ihr insgeheim die Demenz an den Hals, ins Hirn, die bösartige Zersetzung aus dem Hinterhalt, die seine Emilie bedrohte. Seine Frau! Max’ Gedanken rasten von Person zu Person. Eine Frau machte es schwierig. Obwohl? Hatten Frauen im Zeichen einer erweiterten Emanzipation nicht das gleiche Recht auf einen professionell besorgten Tod wie jeder Mann? Was Jordan Ganter ihm im Gespräch nicht hatte erzählen können, förderte der Brief nebst der versprochenen Anzahlung zutage. Die beigelegten 3000 Euro, die sein Schwager – Gott sei es gedankt – nicht per Zufall ertastet hatte, lösten ein Wonnegefühl in Max Heiliger aus, sie waren auch eine Verpflichtung den Menschen gegenüber, die seine Dienste in Anspruch nahmen, ihm vertrauten. E wie Ehrenkodex. Oberst a. D. Utz Entle trug seinen Rang nicht wie ein zufällig erworbenes Mitbringsel vor sich her. Der Offiziersrang untertitelte auch die Frage der Ehre, die mit der Ausbildung zum Kriegshandwerk einherging, und die Utz Entle unterschwellig in einigen Artikeln anklingen ließ. Ehre war ihm wichtig. Max, der Bilder des Obersten gesucht hatte, war nicht fündig geworden, machte sich stattdessen selbst eine Vorstellung, wie der Mann auszusehen hatte, und war bei einer Figur angelangt, die einen englisch, adretten Sportsmann umrahmte, mehr Gentleman als Krieger.
H wie Humanes Töten. Ein Gentleman tötete human, gar keine Frage. Utz Entle sprach diesen Aspekt zeitweilig in seinem Buch an und plädierte für die Senkung der Hemmschwelle des Tötens im Fall einer berechtigten Vorgehensweise. B wie Berechtigtes Töten. Human und Berechtigt. Beides waren große Worte. Humanität fand sich in der Realität nicht so oft, wie es jene gerne hätten, die diesen Begriff großflächig verwendeten. Und eine Berechtigung war immer eine Frage des Standpunktes. Dieser entzog sich Fragen der Ehre, erst recht der Humanität und ganz sicher auch einem Gewissen. In Berechtigung steckte Recht, aber nicht Gerechtigkeit, philosophierte Max Heiliger. Recht hatte grundsätzlich, wer stärker war, wer sich seinen Platz erkämpfte. Oder erkämpfen ließ. Wie jene Auftraggeber des Altenheims, die eine inhumane Behandlung seitens der Heimleitung, genauer der geriatrischen Seite bemängelten, zuerst, eine bessere Behandlung forderten, dann, um Hilfe schrien, zuletzt. Sie hatten es sogar geschafft, der »Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter« eine Botschaft zukommen zu lassen. Dort berichteten sie ausführlich über die Misshandlungen, die ihnen zuteil wurden, Vernachlässigungen durch Pfleger, die zu vernachlässigen gewesen wären, gäbe es nicht die diktatorische Führungsspitze dieser weiß gewandeten und in Filzpantoffeln herumschleichenden Aufpasser. Die ältesten unter den Heimbewohnern hatten den Zweiten Weltkrieg zwar noch physisch, aber kaum bewusst erlebt, wagten den in der Öffentlichkeit und bei den Verantwortlichen indiskutablen Vergleich zu Konzentrationslagern und flüchteten sich in eine eingekerkerte Verwirrung, als Hilfe von außen, der Folterstelle, ausblieb, weil es so schlimm nicht war, wie es verlautete, nicht annähernd, weshalb sie sich ängstlich noch mehr abschotteten. Ein paar Wenige wollten sich mit einem Schutzpanzer aus Konsternierung als letztes Mittel nicht abfinden und ersannen den Plan, den Todesengel, Hilda Fritzelshues mit Wahrnamen, aus dem Weg zu räumen, in der Hoffnung, es finde sich zu ihren Lebzeiten kein adäquater Ersatz mehr.
Natürlich suchte Max Heiliger nach nur mehr