Eine solche Gefahr bestand unter ihrer Aufsicht glücklicherweise nie. Mein zugegebenermaßen etwas unästhetischer Spitzname kam daher auch nicht von ungefähr, denn ich hatte schon als kleiner Junge immer ein wenig mehr auf den Knochen, als ich zum Überleben benötigte. Es war keine Seltenheit, dass ich den Tisch erst nach meinem zweiten Schnitzel verließ, wobei ich locker ein drittes verputzt hätte, wenn da nicht der extra große Teller Pommes gewesen wäre. Der war ursprünglich für die ganze Familie gedacht, aber weil ich meist ohnehin fast alle frittierten Kartoffelstangen in mich hineinschaufelte, bekam ich schließlich meine eigene Portion.
Als gut gefütterter Junge hatte man natürlich den Vorteil, dass man niemals Hunger leiden musste. Allerdings gab es auch den einen oder anderen Nachteil, etwa dann, wenn man es in der Schule mit zwölf Jahren bereits gewichtsmäßig mit jedem Lehrer aufnehmen konnte. Mit einem verniedlichenden »Dickerchen« war da vonseiten meiner Mitschüler nicht zu rechnen gewesen, weshalb man mich irgendwann kurz und knapp einfach »den Dicken« nannte. Das war nicht einmal böse gemeint – zumindest nicht von allen. Ich war ganz einfach »der Dicke«, Peter war »der Lange«, Uwe war »der Kleine« und Steffen war »der Doofe«. Äußerst kreativ sind Kinder nun einmal nicht, wenn es um Spitznamen geht. Peter, Uwe und ich waren jedenfalls heilfroh, dass wir entweder dick, lang oder klein, zumindest aber nicht Steffen waren.
Ob es an unseren Spitznamen und der damit einhergehenden, sich ständig wiederholenden Verspottung lag, oder woran auch immer: In Uwe und Peter hatte ich Brüder im Geiste gefunden. Auf jeden Fall hatten wir das gleiche Verständnis von Humor, was nichts anderes heißen soll, als dass wir ähnlich bekloppt waren. Man musste beispielsweise schon ziemlich einen an der Waffel haben, wenn man sich in den Garten des sadistisch veranlagten Mathe-Lehrers schlich, um seinem heißgeliebten Dackel mit ein paar Spraydosen ein buntes Aussehen zu verpassen. Beweisen konnte man uns damals allerdings nichts. Im Gegenteil, wir waren trotz unserer körperlichen Attribute drei so unscheinbare Typen, dass nie jemand auf die Idee kam, uns zu verdächtigen. Ein Umstand, den wir im Laufe der Jahre schamlos ausnutzten.
Mehr noch als unser Humor sollte uns jedoch die Liebe zum Essen verbinden. Anfangs waren es abenteuerliche Ausflüge zu McDonald’s, bei denen wir unser Taschengeld in Burger, Pommes und Milchshakes investierten. Irgendwann wurde uns der Clown allerdings zu kindisch und wir stiegen auf Burger King um, wobei wir noch Kinder genug waren, um anschließend mit den Pappkronen auf den Köpfen durch die Stadt zu laufen. Mit fünfzehn verbrachten wir schließlich die meiste Zeit bei KFC, was unweigerlich dazu führen musste, dass ich zumindest zwischen sechzehn und achtzehn kein frittiertes Hühnchen mehr sehen konnte. Zum Glück gab es aber genug andere Fleischsorten, die ich nach wie vor genüsslich in jeglicher erdenklichen Form verspeiste.
In unserem Trio war ich klarerweise der unumstrittene König, was den Appetit betraf. Uwe hatte wohl nicht nur eine kompakte Statur, sondern mit ziemlicher Sicherheit auch einen kleinen Magen. Kulinarischen Genüssen gab er sich mit einer ähnlichen Ambition hin wie ich selbst; was die Menge betraf, aß er aber kaum die Hälfte von mir. Peter wiederum, der mich beinahe um einen Kopf überragte, konnte mengenmäßig beizeiten sogar annähernd mit mir mithalten, was man ihm aber nicht ansah. Ob damals im Sportunterricht oder mit Mitte zwanzig in der Sauna: Jedes Mal, wenn ich seinen nackten Oberkörper zu Gesicht bekam, stellte sich bei mir ein unweigerliches Gefühl des Hungers ein. Diese weiße, fast durchsichtige Haut, die sich eng an seine Rippen presste, schien meinem Unterbewusstsein zu suggerieren, dass mein Gegenüber dringend etwas zu essen brauchte. Weshalb ich wiederum ebenso hungrig wurde.
Das scheint in meinem Fall so zu sein, wie es bei anderen mit dem Gähnen ist. Man kennt das ja, kaum reißt jemand in der Nähe den Mund auf, glaubt das eigene Gehirn, dass man selbst auch unter Sauerstoffmangel leidet, und schon gähnt man, was das Zeug hält. Bei mir ist das nicht so. Gähnende Menschen sind mir eigentlich ziemlich schnuppe. Dafür bekomme ich eben jedes Mal Hunger, wenn ich einen dünnen Menschen sehe. Aus diesem Grund kann ich mir auch Germany’s Next Topmodel nicht ansehen. Da fresse ich sonst den halben Kühlschrank leer.
Meine Fastfood-Zeiten bereue ich keineswegs, denn sie gehören zu den besten Erinnerungen, die ich an meine Kindheit habe. Mein Leben – und zu einem gewissen Grad auch das von Uwe und Peter – sollte sich aber von Grund auf verändern, als ich von meinem Vater in die Kunst des Grillens eingeweiht wurde. Es ist nicht weniger als eine Offenbarung, wenn man zum ersten Mal in ein Stück beißt, das man eigenhändig – beziehungsweise aus Sicherheitsgründen mit der Zange – auf dem Grill so lange wendet, bis es Perfektion erreicht hat.
Natürlich wusste ich damals noch nicht einmal ansatzweise, was wahre Perfektion auf diesem Gebiet bedeutete. Erst nach und nach entwickelte ich mich vom blutigen Anfänger zu einem Grillmeister, der es mit den Besten der Besten aufnehmen konnte. Erfahrungen sammelte ich zunächst während unserer sommerlichen Familiengrillabende, die zwischen April und Oktober zwei- bis dreimal pro Woche stattfanden. Je nach Witterung warfen wir beizeiten sogar im Dezember oder Januar den Grill an, aber das waren nur abenteuerliche Ausnahmen.
Eines Sonntagabends durfte ich Uwe und Peter zu einem familiären Grillbeisammensein einladen, woraufhin sich am nächsten Tag in der Schule die Kunde wie ein Lauffeuer verbreitete: »Der Dicke kann grillen!« Das war im Jahr, in dem wir unser Abi machten, und mit meiner Rolle als Außenseiter hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt längst abgefunden. Von den laufend stattfindenden Partys hatte ich zwar gehört, nachdem ich aber nie eingeladen worden war, hatte ich diesen keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das sollte sich mit meinem neuen Ruf allerdings schlagartig ändern.
Die Sache war die: So cool und beliebt einige Jungs in unserer Schule auch waren, keiner von ihnen hatte auch nur ansatzweise eine Ahnung davon, wie man einen Grill bediente. Ein solches Unterrichtsfach hatten wir nicht am Gymnasium. Und selbst wenn wir es gehabt hätten, wären sie zweifellos überfordert gewesen. Ob das nur an unserer Schule der Fall war, konnte ich nicht sagen, aber es war nämlich so: Je beliebter ein Typ war, desto weniger hatte er in der Birne. Das war den Mädels offensichtlich egal, was ich nicht nachvollziehen konnte, doch auch in diesem Fall hatte ich mich mit den gegebenen Umständen abgefunden. Wenig Hirn, dafür aber ein großes Haus mit Garten und Pool reichten wohl aus, um den gesellschaftlichen Ansprüchen zu genügen und die weiblichen Herzen zu erobern. Zumindest bis zu jenem – für mich schicksalshaften – Tag.
Jens – der mich seit Monaten nicht einmal mit dem Hintern angesehen hatte, obwohl wir bereits gemeinsam im Kindergarten gewesen waren – dürfte von den Lobpreisungen auf meine Grillkunst Wind bekommen haben. Während der Pause kam er zu mir, zog mich ein Stück zur Seite und machte mir ein – aus seiner Sicht bestimmt äußerst gönnerhaftes – Angebot. Ich war unter der Voraussetzung auf seine – Zitat – »Mega-Party« eingeladen, wenn ich dort den Grilldienst übernehmen würde. Tatsächlich war ich sehr aufgeregt, hielt mich jedoch so gut es ging zurück und stellte die Bedingung, dass auch Uwe und Peter kommen durften. Ein verächtliches Lächeln von Jens fixierte den Deal und der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt.
Die Party war ein voller Erfolg Die kommenden Wochen und Monate war ich nun im Dauereinsatz über den glühenden Kohlen. Meine Popularität stieg so rasant an, wie ich es mir nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Wo immer ich auftauchte, wurde ich von freundlichen Gesichtern empfangen, was meinem Ego zweifelsohne guttat. Selbstverständlich begegnete ich den neu entstehenden Freundschaften anfangs skeptisch, da mir bewusst war, dass ich nur als Mittel zum Zweck fungierte. Mit der Zeit änderte sich das allerdings, denn nach und nach wurde das Verhältnis zu diesen Leuten authentischer. Mit niemandem verband mich zwar eine so enge Beziehung wie mit Uwe und Peter, dennoch erweiterte sich mein Freundeskreis in den nächsten Jahren ungemein.
Mein ganzes Leben hatte sich somit zum Positiven verändert und das verdankte ich einzig und allein meiner Liebe zu gegrilltem Fleisch.
Hierbei