„Und ich dachte, wir tanzen mit der schönen Ursula“, stichelt Zett. Danach gehen sie getrennte Wege, beiderseits leicht vergrätzt.
Nein! Zett neigt wirklich nicht zum Tratsch, aber bei ihrem Vater eben war Ursula noch eine sittsame Brünette. Ein paar Bilder, ein paar Brücken weiter, reicht sie ihrem Bräutigam die Hand, als prachtvoller venezianisch blonder Lockenkopf, dem sich das geraffte rote Kleid um ein Bäuchlein fältelt, dessen Wölbung an Schwangerschaft gemahnt. Dabei begegnen sich die Brautleute hier zum allerersten Mal. Und so etwas wie unbefleckte Empfängnis ist für ihresgleichen nicht vorgesehen.
Wieder ein Bild weiter träumt Ursula von ihrer Mission. Zett kriecht millimeterweise auf die leere Doppelbetthälfte und unter ihre rote Decke, wo er seine Hand auf ihren Bauch gleiten lässt, der hier so flach und straff ist, als müsste sie ihre Galeere selber rudern. Vollkommen gleichmäßig hebt und senkt er sich beim Atmen, obwohl Ursula doch gerade den eigenen Tod träumt. Zett flüstert: „Warum schläfst du im Doppelbett, sag mal, warum muss der Schriftzug ‚Infanta‘ deine Jungfernschaft extra behaupten? Hm, Fräulein? Da wäre doch ein Einzelbett viel überzeugender!“
„Ach Ätherius“, seufzt sie, offenbar im Glauben, Zett wäre ihr Bräutigam.
Vom Fußende schnalzt der Engel der Weissagung tadelnd mit der Zunge, dieser Trauerkloß mit Märtyrerpalme und ausgefransten Flügeln. Sein unpassender blonder Lockenkopf erinnert Zett wieder an Ursulas Frisur:
„Okay, das Haar kannst du dir von Bild zu Bild färben.“ Er denkt nach. „Aber bei der Abfahrt aus England warst du schwanger – jetzt bist du’s nicht mehr. Abtreibung ausgeschlossen. Gab es da eine Fehlgeburt? Oder hast du dein Kind heimlich zur Welt gebracht? Schläft es jetzt bei der Amme? Warum sonst fehlt hier eine Wiege?“
Aufgeregt schlägt der Engel der Weissagung mit den Flügeln. Ursula jedoch schmiegt ihre Wange tiefer in die Hand. Atmet nach einem kleinen Seufzer ruhig weiter. Schnarcht nicht. In ihrem zarten Alter ist das Gaumensegel wohl noch straff. Sagt man nicht den Rückenschläfern nach, gänzlich angstfrei zu sein? Beneidenswert: ein Seelenfrieden, der ohne Sicherheit auskommt. Von dem zu kurz geratenen Engel ist im Ernstfall kein Schutz zu erwarten. Und der Welpe am Fußende des Bettkastens taugt nicht zum Wachhund, egal wie giftig er aus dem Bild heraus den Betrachter fixiert.
„Hey, Ursula, bist wahrscheinlich ein großes Mädchen und passt auf dich selber auf, oder? Dumm nur, dass du trotzdem am Ende der Geschichte tot bist!“
Bucholtz’ Gekritzel, so ausufernd es sich über die Seitenränder ergießt, ist nutzlos.
„Das Bäuchlein allerdings könntest du freundlicherweise erklären, ganz zu schweigen von deinem – sorry! – glasigen Blick vor den Toren Roms ... was gibt es da zu meckern, die verkrümmte Hornhaut gehört zu den Begleitsymptomen guter Hoffnung!“
Zett unterbricht, als der Engel der Weissagung heftiger mit den Flügeln schlägt, das Hündchen kläffend davon springt und der Luftzug im offenen Buch auf Ursulas Schreibtisch die Seiten umblättert. Als dann auch noch das Stundenglas splittert und Ihre Majestät, die Zeit, in der Gestalt von Sand durchs Zimmer spritzt, macht er sich davon. Hier ist im Augenblick wohl niemand an Aufklärung interessiert.
Überall Fassaden! An König Maurus’ Hof gibt es zum Beispiel eine Tendenz zur Angeberei. Offenbar will man alle Räumlichkeiten präsentieren, die man so hat. Warum sonst werden die fremden Diplomaten im Hafenpavillon begrüßt, durchaus schon sehr repräsentativ, bei der Abreise jedoch ins denkbar formellste Staatsgemach komplimentiert, wo ihnen König Maurus das Antwortschreiben aushändigt?
„Wow!“, ruft Cloerkes, plötzlich wieder im Bild. Er würdigt die Verabschiedung der Botschafter keines Blickes, sondern starrt gebannt auf die Rückwand des Saals, deren prachtvolle Marmorinkrustation ihn aus dem Häuschen bringt. Zeit seines Lebens hat er das Ornamentale geliebt. Geometrie lautet sein zweiter Vorname. Cloerkes’ Essbesteck bleibt nie ordentlich neben dem Teller, sondern wird zum gleichschenkligen Dreieck, in dessen Mitte zuverlässig Pfeffer und Salz zu stehen kommen. Die Marotte setzt sich durch unzählige geometrische Stricheleien in seinen Notizbüchern fort, die Zett nach Cloerkes’ Tod flüchtig durchblättert, ehe er sie verbrennt. Bis in Cloerkes’ Terminkalender hinein erstreckt sich der Tic. Die zeigen quasi auf jeder Seite mathematische Flächen. Fünf Termine am Tag – sowas kommt nicht untereinander neben die vorgedruckten Uhrzeiten, sondern an die Schenkel eines säuberlich gezeichneten Fünfecks.
Hier im Bild schmückt die komplexe Geometrie aus buntem Gestein die Rückwand des Thronsaals – vor einer Grundfläche aus Muschelkalk. Sinnige Anspielung, denn gleich nebenan, über dem Türsturz des Hauptportals, symbolisiert die Jakobsmuschel Pilgerschaft im Allgemeinen, gar nicht besonders auf Ursula gemünzt. An der Rückwand jedoch prangt zuinnerst ein Quadrat, gerahmt von einem Achteck, das von vier sechseckigen Parallelogrammen gebildet wird, sozusagen in die Länge gezogenen Bienenwaben. Da herum noch ein Quadrat – aus acht Quadraten. Da herum ein zweites Achteck, das zu allerletzt wieder von einem großen Quadrat aus demselben orangefarbenen Marmor gefasst wird. Kurz – eine geometrische Orgie ganz nach dem Geschmack des Willem Cloerkes.
„Ja, pass halt besser auf“, nörgelt der, „weil dein letztes Quadrat nämlich ein Rechteck ist. Aber ich will mal nicht so sein! Das Achteck wird unser Port in Carpaccios Welt. Wie sagen deine Speznaz-Kumpels so trefflich? Any time, any place, any mission! Nur auf Russisch.“
„Wieso Port?“, fragt Zett.
„Der Zyklus hat neun Bilder. Das Achteck acht Ecken. Durch jede Ecke kommen wir aus unserem Bild in eins der übrigen acht Bilder. Nenn es von mir aus Mnemotechnik. Ich teile mir die Welt halt geometrisch ein!“
„Jaja – auf gerader Linie in den Tod! Und ich muss das mit ansehen!“
Zett würde jetzt sehr gern entspannen. Schon wieder wird ihm unbehaglich, kribblig, nähert sich jener Zustand, den er am meisten fürchtet unter all seinen derzeitigen Zuständen. Am schlimmsten ist gar nicht die Dauerspannung, die kein Loslassen mehr kennt. Am schlimmsten ist die falsche Sorte Entspannung, die ihn mit einem dröhnenden, den ganzen Körper erfassenden Strom an den Boden schweißt, als flösse das Leben heraus. Aber so weit ist er heute noch nicht.
In der Apotheose sieht Ursula einfach nur blöd aus. Carpaccio hat sie in fades Blau gekleidet, das gar nichts mehr mit dem Himmelblau des Rombildes gemein hat.
Oder? Zett überlegt: Wie sieht hellblauer Atlas aus, wenn er mit Blut durchsuppt ist?
Über der Brust faltet sie die Hände. Der Maler verhüllt ihre Kontur mit steifem schwarzgoldenem Brokat, sodass über etwaige prä- oder postnatale Zustände keinerlei Aussage mehr zu treffen ist. Ursula steht auf einem Gestrüpp aus angeblich elftausend Palmwedeln, das unten am Strunk von einem doppelten Ring winziger Cherubim gebunden wird, plumpen lila Schmetterlingen, die wie ein Polizeikordon den Weg der toten Seelen in den Himmel sichern. Güldenes Licht umwabert Ursulas Gestalt auf dem Gestrüppplateau. Wölkchen rings um den güldenen Schein. Rings um die Wölkchen flattern Putti – die müssen dann ja wohl Seraphim sein, wenn die violette Sippschaft am Strunk Cherubim darstellt. Insgesamt bemüht man sich, Ursula zwischen zwei Fahnen empor zu hieven, in Rauschebarts weit geöffnete Arme.
Rings um die Strünke der Märtyrerpalmen knien sie alle. Eine niedliche Stupsnasige, eine vulgäre Beterin mit gotisch gefalteten Patschhändchen. Der falsche Papst, von dem nur die Augenpartie unter der Tiara sichtbar bleibt inmitten des Gewühls. Ein paar Mitglieder der Stifterfamilie Loredan, deren eines im Bildhintergrund das belagerte Skutari gegen die Türken verteidigt. Und schließlich die Besondere – die mit den langen Oberschenkeln. Da hat der Willem Cloerkes was verpasst! Das Gewand umschmeichelt die endlose Strecke von den Knien bis zur Hüfte. Ihre feingliedrige Hand streichelt den Palmenstrunk. Ihr zartes Gesicht schmiegt sie, wie verliebt in das Martyrium, an