„Mach das nicht, Mädchen, hörst du! Verliebe dich nicht in den Tod! Nimm die Finger vom Grün und lass Ursula gen Himmel fahren. Hock nicht auf den Fersen, hörst du, krieg den Arsch hoch, dann bist du größer als die anderen. Die Loredan sorgen schon für sich selber. Den Papst gibt es gar nicht. Also nimm die kleine Stupsnase bei der Hand, lass die übrigen elftausend verzückten Kühe weiter von ihrer mystischen Vereinigung mit dem Rauschebart träumen und macht, dass ihr Land gewinnt! Im Hintergrund jagen die Türken. Die haben Skutari wieder mal nicht erobert. Jetzt wollen sie wenigstens Beute, Vieh und Frauen. Raus aus dem Bild, macht endlich voran, sonst endet ihr als Kollateralschaden!
Nun dröhnt es schon bedenklich im Kopf. Zett riecht den Dieselgestank von Panzermotoren. Ohne an Cloerkes’ Achteck einen Gedanken zu verschwenden, tut er einen Schritt zurück und steht nun im vorletzten Bild, wo er im Hinblick auf sein persönliches Wohlbefinden besser nicht stünde. Hier wird es ernst.
Todernst wird es im vorletzten Bild, mit dem Zett nicht mehr zurande kommt. Rechts des Fahnenmastes tragen sie Ursula auf einer Bahre davon – Kopfkissen und Decken erinnern an ihr träumerisches Doppelbett. Links geht es richtig zur Sache unter Fanfarengeschmetter. Wozu waren all die Kriegsübungen gut? Die Manöver? Schwärmt aus, bildet eine Linie, formt ein Karree, das ganze taktisch ausgebuffte Vor und Zurück, das die Hunnen doch angeblich so fürchten? Hier knien und stehen, hier fallen die Elftausend ohne den Hauch einer Chance, ganz ohne Gegenwehr. Hier wird nicht fair gekämpft, sondern massakriert – ein widerliches Schlachtfest. Der türkische Bogen des angeblichen Hunnen ist bis aufs äußerste gespannt. Der Pfeil zielt auf die kniende Ursula. Wenn Zett jetzt eingreift, trifft der Pfeil jemand anders – und schon steckt er in Ursulas Herz. So wehrlos. So über alle Maßen unfair! Haben diese Menschen wirklich ihr Schicksal frei gewählt, oder liegt all dem eine ganz andere, noch zu ermittelnde Geschichte zugrunde?
Zett tobt durch das Bild, bricht einem der Schlächter die Nase – gleichwohl fährt dem Papst dessen Kurzschwert durch den Hals. Nicht die Spur von militärischem Training! Hilflos blökende Lämmer. Dem Kardinal durchbohrt ein Armbrustbolzen die Wange, wenigstens nicht die Stirn, weil nämlich Zett dem Schützen in die Weichteile getreten hat. Gleichwohl ist die Wunde tödlich. Klumpig pladdert das Blut zu Boden. Sein süßer Eisengestank mischt sich mit dem, was Menschen im Tod und in Todesangst sonst noch unter sich lassen. Äxte und Schwerter werden geschwungen. Das Pochen, das Knirschen und Schmatzen beim Spalten der Schädel. Durchschnittene Hälse, Blut spritzt wie aus einem verkalkten Duschkopf. Pulverdampf. Dieselabgase. Schluchzende Menschen, am Haar unter tödliches Eisen gezerrt, während MG-Feuer ... überall kommt Zett zu spät. Er rettet keine einzige. Gemäß der Logik des Bilderzyklus bricht auch die Stupsnase zusammen, die Hochbeinige – welch obszöne Verschwendung von Leben! Dazu dirigiert Attila höchstpersönlich, rotgolden gepanzert, mit dem Reiterhammer seine Militärkapelle, scheppert serbischer Rechtsrock aus dem Lautsprecher...
Und das war’s dann! Taumelnd floh Zett aus den Bildern und sank auf das harte Lederpolster ohne Rücken- oder Seitenlehne, weshalb er hintenüber kippte und an die Decke starrte, als er zur Besinnung kam. Wie üblich bot der Himmel keine Antworten.
Zett stolperte durch das Museum, rempelte, ohne es zu wollen, Leute an, fiel peinlich auf, sodass ihm Rausschmiss drohte, Hausverbot, das vorzeitige unrühmliche Ende seines Auftrags. Aber er war nicht mehr Herr seiner selbst. Sinn und Kraft flossen aus ihm heraus, wie durch ein riesiges Leck in einem der vielen Schiffe des Zyklus’...
Falsches Bild: Durch ein Schiffsleck strömt Wasser herein, nicht hinaus. Nicht einmal mehr die simpelste Metapher bekam er hin!
Mit knapper Not gelangte er ins Freie und nahm Venedigs Brücken, die Gassen und Rivas, die Calle und Campi unter die Füße. Nicht, dass er gerannt wäre oder sich auch nur beeilt hätte. Doch endlose Stunden hindurch hielt er auch nicht mehr an.
Carpaccio malte Hunnen, meinte aber Türken, was letztlich ganz egal war, denn am Ende waren alle Hauptdarstellerinnen tot. Von den Anschlägen, die in Istanbul das britische Konsulat und die HSBC-Niederlassung trafen, merkte Zett nichts, während er auf nackten Füßen, Schuhe und Socken in der Hand, über die Riva degli Schiavoni schlurfte und fast bis zur Bettschwere gewandert war. Überhaupt merkte er wenig, sah den wahren Auftrag hinter dem Tarnnetz aus Bildern nicht und schon gar nicht Bucholtz’ zähe Diplomatie, gegen die in Istanbul erfolglos angebombt wurde.
Zett wusste nur, dass diese Bilder es ihm nicht leicht machten. In kurzen Pausen trainierte er mit dem Prachtband, kämpfte sich mühsam durch das Gekritzel über eine große Theateraufführung mit lauter Hunnen, merkte wohl, dass er es übertrieb, kam aber nicht dagegen an, denn er fühlte sich herausgefordert über jedes erträgliche Maß.
Den Zusammenbruch, kurz und heftig, überstand er in einer vermüllten Sackgasse beim Arsenal. Danach war er euphorisch, wie lange nicht mehr, bis die Euphorie wieder ins Gegenteil mündete – in die nächste Attacke des furchtbaren Kribbelns, das ihn glücklicherweise erst im Hotel überfiel. Nachdem Zett auch damit durch war, am frühen Freitagnachmittag, fand er endlich ein bisschen Schlaf.
5. Venedig. Freitag, 21.11.2003, nachts
Fluchtartig hatte er das Restaurant verlassen. Nun lehnte er schwer atmend an der Vaporettoreling und widerstand dem Drang, in volle Deckung zu hechten, vielleicht sogar ins glatte, totkalte Wasser der Lagune. Jeden Morgen machte er fünfzig Liegestütz, Situps und Kniebeugen. Er kletterte, lief jede Woche seine Kilometer, doch jetzt war ihm die Brust so eng wie dem nächstbesten Infarktopfer. Er hatte viel zu kurz geschlafen, geplagt von Alpträumen über einen schöngeistigen Söldner, der seinen Lebensunterhalt mit Tod verdiente. Mutterseelenallein war der Typ. Konnte er auch nur mit einem der fünfzigtausend Contractors im Irak ein vernünftiges Gespräch führen, das über nackte Einsatzbesprechung hinausging? Auch nur mit einem Einzigen, egal ob sie nun für Halliburton, Blackwater oder für die Agency kämpften? Russen waren in aller Regel okay, außer den Folterknechten, die bei den Omon-Einheiten abgemustert hatten. Von Serben hatte Zett die Schnauze voll, ebenso wie von den Garden des Dschihad. Die Weißen aus Süd- und Südwestafrika waren meist üble Rassisten. Mit asiatischen Söldnern kam man nicht in Kontakt, die verkehrten nur mit Landsleuten. Lateinamerikaner hatten meist die Schule von Ausbildern durchlaufen, die ihrerseits noch in den Folterdiktaturen des Kalten Kriegs gelernt hatten. Am besten kam Zett mit den ganz harten Knochen klar, so hart, dass in den Schädeln wenig Platz für Hirn blieb! Schlimm waren die Familienväter – denen stand er völlig ratlos gegenüber.
Die Fremdenlegion wäre eine Zuflucht gewesen, früher einmal. Da hatte sie manchen Sonderling integriert. Heute jedoch leistete die Legion sich diesen exzellenten Geheimdienst, der Zetts Legende binnen Minuten zerpflückt hätte. Außerdem war er zu alt. Die Ersparnisse seines Lebens waren dahin – für eine durchsichtige Tarnung, die ihn nicht mehr lange vor Hisbollah schützen würde. Wahrscheinlich sollte er auf Dauer unterkriechen bei Bucholtz und diesem bewaffneten Thinktank, dessen Website mit zweitausend Jahren Tradition prahlte. Wenn er dann jedoch überlegte, dass ein bisschen nur, ein Quäntchen mehr Anpassung im Elternhaus, in der Schule oder später bei der Bundeswehr genügt hätten, dem Leben eine völlig andere Richtung zu geben, dann entwickelte das schwarze Wasser mächtigen Sog. Zett beugte sich vor, tief über die Reling, und wäre gekippt, hätte nicht Cloerkes aus der spiegelglatten Fläche abgewinkt ...
„Zählst wieder Fantasieratten?“ Mit drei Worten brach Miss Stimme den Bann.
Trotzdem musste Zett, bevor er sich sehr langsam umdrehte, erst noch den Impuls niederkämpfen, die plötzliche Bedrohung im Rücken durch einen Handkantenschlag auf den Kehlkopf der Frau zum Verstummen zu bringen. Das war der schlimmste Teil der Anfälle. Nach Vietnam hatte ein Veteran in heilloser Panik seinen kleinen Sohn erwürgt, als der ihm das Frühstück ans Bett brachte. Der Vater, vom Geschirrklappern aus dem Schlaf gerissen, sah plötzlich ein Gesicht über sich und nahm es wahr als Teil der allumfassenden Bedrohung, vor der es kein Entrinnen gab –