Es hatte sich kaum etwas verändert, seit er das letzte Mal Tageslicht gesehen hatte, stellte der Drache fest. Südlich von ihm, viele tausend Barret entfernt, konnte er Alland Pera als schemenhafte Umrisse erkennen. Der Hügel, auf dem sich die Hauptstadt befand, überragte den Paratul und die umliegenden Wälder um einiges. Die Türme des prächtigen Schlosses zeichneten sich am Horizont ab und waren nun, nach einem starken Regen, vom Dunst eines schönen Herbsttages umgeben.
Westlich von ihm, nahe am Hügel, lagen Zurnam und der Hohlweg, der von dort zum Paratul und in einem sanften Bogen daran vorbeiführte und gut zu überblicken war. Toranus würde sein Augenmerk hauptsächlich darauf richten müssen, denn ihm war klar, dass sich die Sellag nicht so einfach von seinem Schatz vertreiben lassen würden.
Im Norden, der Blick darauf wurde durch eine Schneise im größten Wald Ellands, dem Mirn-Wald, freigegeben, lag etwa achthundert Barret entfernt das kleine Dorf Brugen. Mit dem Mirn-Wald und Brugen fühlte sich Toranus auch nach all den Jahrhunderten noch immer besonders verbunden. In einer Höhle inmitten dieses hellen und freundlich anmuteten Waldes war er vor unzähligen Jahren aus seinem Ei geschlüpft. Vom ersten Moment an war er auf sich selbst gestellt gewesen 11). So schlug sich Toranus 12) alleine durch, bis eines Tages Pillon, ein Bauer aus Brugen, durch Zufall auf ihn gestoßen war und schnell die Außergewöhnlichkeit und das friedliche Gemüt dieses besonderen Wesens erkannt hatte. Er hatte den kleinen Drachen mit zu sich nach Hause genommen und in seinem Stall untergebracht. Der Bauer und seine Familie waren gut zu ihm gewesen. Sie hatten ihm seinen Namen gegeben, und Toranus hatte sich stets wohl bei den Menschen gefühlt. Bald waren auch die besonderen Talente des kleinen Drachen zum Vorschein gekommen. Zur Überraschung aller hatte er bald die Sprache der Menschen erlernt und so wurde deutlich, dass er nicht nur ein besonderes, sondern auch ein intelligentes Wesen war. Er wuchs stetig und war bald zu einer großen Hilfe für den Bauern und auch für die anfangs argwöhnischen Dorfbewohner geworden. Der Drache hatte nicht nur eine Bereicherung für das Leben aller dargestellt, er hatte auch durch seine Größe, Kraft und Ausdauer ihre Arbeit erleichtert.
Dann eines Tages, Pillon war bereits viele Jahre Tod und seine Enkel hatten seinen Hof weitergeführt, waren die Fremden über das Meer gekommen und hatten sich auf heimtückische und hinterhältige Weise Allendas bemächtigt. Als die Situation immer ernster wurde und das ganze Land bereits eingenommen worden war, war Brugen das einzige Dorf, das nicht von den Fremden belagert werden konnte, denn Toranus hatte es tapfer verteidigt. So hatte der Drache all die Jahre der Belagerung verhindern können, dass Brugen eingenommen wurde und die Dorfbewohner waren ihm von Herzen dankbar dafür. Als dann Helaras mit seinen Truppen von Norden gekommen war und niemand diese plötzliche Unterstützung und Erlösung erwartet hatte, kam es auch in Brugen zu großen Verlusten, denn die Schlacht war gerade in Elland besonders hart gewesen. Die Eindringlinge hatten Zurnam besonders hartnäckig verteidigt, doch letztendlich hatte Helaras den Sieg davontragen können. Er hatte unter großem Jubel den Thron von Allendas bestiegen und Toranus gebeten, die Bewachung des Schatzes Muteral, gegen den Helaras einen großen Unmut gehegt hatte, zu übernehmen. Dieser hatte eingewilligt, auch wenn er sich nicht hätte träumen lassen, dass seine Aufgabe so eine lange Zeit in Anspruch nehmen würde.
Toranus seufzte, angesichts all dieser schönen und traurigen Gedanken und bettete seinen großen Kopf auf seine verschränkten Vorderpfoten, den Blick fest auf den Weg nach Zurnam gerichtet. Er überlegte, ob es Pillons Hof wohl noch immer gab und ob er noch immer von seinen Nachkommen geführt wurde. Er entschloss sich, Brugen einen Besuch abzustatten, sobald die Situation geklärt sein würde. Als er an die vergangenen Stunden dachte, fiel ihm auf, wie sehr ihn das Verhalten der Sellag an das Gebaren der früheren Eindringlinge erinnerte und er schloss daraus, dass wohl alle bösen Lebewesen gleich waren. Aber er hatte es damals geschafft, sich erfolgreich zu verteidigen und es würde ihm auch diesmal wieder gelingen.
Hondor, Zorina und Usadim liefen, ohne noch einmal zurückzuschauen, über die dicht bewachsene, grüne Wiese. Die Fesseln machten Zorina und Usadim das Laufen schwer und sie hatten Mühe, voran zu kommen. Weit und breit war kein anderer Gefangener mehr zu sehen. Alle schienen andere Wege gewählt zu haben.
Erst als sie den Rand der Schneise, die den Mirn-Wald teilte, erreicht hatten, blieben sie, verborgen hinter den ersten Bäumen, stehen, um nach Atem zu ringen. Sie blickten noch einmal zurück und konnten den Paratul und den Drachen, der sich darauf niedergelassen hatte, erkennen.
»Meint ihr, wir können ihn dort allein lassen, Majestät?«, fragte Zorina, als sie wieder ein wenig zu Atem gekommen war und deutete in Richtung des Drachens.
»Ich bin sicher, er kann auf sich aufpassen.« erwiderte Hondor zuversichtlich.
»Hembras muss ihn geschickt haben«, fügte Usadim schnaufend hinzu. »Wer weiß, was die Sellag uns angetan hätten, wenn sie unsere Arbeit nicht mehr benötigt hätten.«
Keiner der drei wollte sich vorstellen, was wohl mit ihnen geschehen wäre, wenn die Sellag ihren Schatz bekommen hätten und sie verzichteten darauf, es sich auszumalen.
»Er verdient wirklich unseren Dank.« sagte Usadim nach einem Moment.
Hondor nickte zustimmend. »Ich werde ihn für seine Hilfe entlohnen, sobald es mir möglich ist. Obwohl ich nicht weiß, womit man eine solche fleischgewordene Sagengestalt belohnen kann.«
»Es wird sich bestimmt etwas Entsprechendes finden«, meinte Zorina und fügte dann neugierig hinzu: »Ich möchte zu gern wissen, was in der Höhle geschehen ist.« Sie war wirklich gespannt darauf, zu erfahren, wie es zu dieser erfreulichen Wendung der Dinge gekommen war.
»Das werde ich Euch alles berichten«, versprach Hondor. »Nur jetzt haben wir keine Zeit dazu. Wir sind noch lange nicht in Sicherheit.«
»Aber wohin sollen wir gehen?«, fragte Usadim besorgt. »Das ganze Land ist von diesen Kreaturen befallen. Es wird keinen Ort geben, an dem wir sicher sind.«
»Vielleicht doch«, antwortet Hondor mit einem hoffnungsvollen Funkeln in den Augen. »Ich habe gehört, wie zwischen den Sellag der Name Bernam fiel. Zwar konnte ich nicht verstehen, was sie sagten, aber die Laute und Gesten ihres Anführers ließen mich zu dem Schluss kommen, dass es ihnen noch nicht gelungen ist, das dortige Kloster zu besetzen. Es liegt weit im Norden, mitten im Rorgan-Wald und ist gut befestigt. Vielleicht können wir uns bis dahin durchschlagen und dort Unterschlupf finden, bis uns etwas einfällt, wie wir die Sellag bekämpfen können.«
Hondor kannte das Bernam-Kloster. Zwar war er noch nie selbst dort gewesen, aber er hatte bereits viel darüber gehört, vor allem aus den Erzählungen seines Vaters. Harus hatte, wie viele Könige vor ihm, während der Zeit seiner Herrschaft mehrmals das Kloster besucht, um dort Ruhe und Besinnung zu finden und Rat für seine Entscheidungen bei den belesenen und weisen Mönchen einzuholen. Zudem waren auch die Mönche einige Male nach Allendas gekommen, um dort ihre Geschäfte abzuwickeln, wobei sie stets bei ihrem König vorgesprochen hatten. Hondor war immer beeindruckt von den diszipliniert und Ehrfurcht einflößenden Dienern Hembras’ gewesen und es erstaunte ihn nicht, dass sie in der Lage gewesen waren, sich den Eindringlingen zu widersetzen. Zudem war das Bernam-Kloster eine große und gut geschützte Festung. Sie war von den alten Königen gebaut worden, um sich gegen Feinde aus dem Norden zu verteidigen und im Kampf gut zu halten.
»Aber es ist ein weiter Weg bis in die nördlichen Wälder«, gab Zorina zu bedenken. »Wie sollen wir es bis dorthin unentdeckt schaffen?«
»Es ist unsere einzige Chance.« Hondor zuckte kurz mit den Schultern. Er gab vor, ruhig zu sein, aber natürlich hatte er sich auch bereits seine Gedanken darüber gemacht. »Wenn wir uns fernab von allen Straßen und Siedlungen halten, wird es schon irgendwie gelingen.«
»Wir