Alenas Augen blitzten. „So was eine Chance geben zu nennen ist ein schlechter Witz.“
„Diesmal wird alles anders“, sagte Jorak, und einen Moment lang glaubte er tatsächlich daran. Doch tief in ihm saß ein kalter, harter Kern der Angst. Nicht die weite Reise nach Eolus machte ihm Sorgen. Es war ein Ort namens Torreventus – im Norden von Nerada, direkt auf dem Weg nach Eolus –, der seine Gedanken beherrschte. Dort war Jorak aufgewachsen, dort lebte seine Mutter noch immer. Mit dreizehn Wintern hatte Jorak sich einer Händlergruppe angeschlossen, um seinen Vater zu suchen, und war schließlich in Ekaterin gelandet. Seither hatte er seiner Mutter jedes Mal, wenn er irgendwie das Geld für einen Wühler hatte zusammenkratzen können, eine Nachricht geschickt. Aber es waren nur wenige Sätze gewesen, die sie alle paar Monate austauschen konnten. Und vor ein paar Wintern waren die Botschaften seiner Mutter seltsam zurückhaltend geworden. Er hatte nach Torreventus reisen wollen, um sie zu sehen, aber sie hatte ihm davon abgeraten – und danach hatte sie ihn nie wieder gefragt, wann er sie denn nun besuchen würde. Das tat weh. Ein Dutzend mögliche Erklärungen hatte er sich für ihr Verhalten ausgedacht. Nun, bald würde er wissen, was wirklich los war – wenn er diese Bestätigung wollte, hatte er keine Wahl, er musste nach Torreventus.
In den letzten Wintern hatte er versucht, nicht mehr so oft an seine Mutter und seinen Heimatort zu denken. Es war leichter so. In einer großen Handelsstadt wie Ekaterin war es möglich, als Gildenloser zu überleben, hier hatte er echte Freunde gefunden. Auch in Torreventus hatte es Menschen gegeben, die ihn mochten, aber viele Bewohner hatten mehr als deutlich gemacht, dass er unerwünscht war.
Schade, dass ich nicht erst auf dem Rückweg dort vorbeischauen kann, dachte Jorak. Wie sich das wohl anfühlen würde, mit einem brandneuen Gildenamulett um den Hals dort hinzukommen?
Feigling, Feigling, Feigling!, schrie seine innere Stimme. Wenn Alena wüsste, dass du dich nicht nach Hause traust! Sie ist so viel stärker als du.
Jorak zwang seine innere Stimme, Ruhe zu geben, und half seiner Gefährtin, das Versteck nach möglichem Tauschgut durchzugehen. Keldo war ohne Erben gestorben, und auch er war aus der Gilde ausgestoßen worden, deshalb gehörte das Versteck und alles darin im Prinzip den Findern, also Alena und ihm. Es tat Jorak in der Seele weh, einige der wertvollen Gegenstände verkaufen zu müssen. Aber es ging nicht anders – sie brauchten dringend Ausrüstung, und Geld hatte keiner von ihnen. Jorak entschied sich, ein paar Wasserdiamanten anzubieten, und zum Glück fand er unter den Händlern schnell einen Abnehmer. Einen Tag später war alles bereit und sie machten sich auf dem Weg nach Nerada.
Durch Alaak – die Provinz der Erd-Gilde – zu reisen war längst nicht so beschwerlich wie der Weg ins Grenzgebiet und die Wüste jenseits davon. Wiesen voller Blumen und Felder, auf denen Flachs, Pfeilwurzeln und Grünkorn wuchsen, umgaben Jorak und Alena. Hin und wieder durchquerten sie ein kleines Wäldchen, in dem die Luft kühl und frisch war. Nahe Ekaterin wanderten sie über breite Straßen aus gestampfter Erde, in denen man die Spuren von Dhatla-Krallen sah. Familien, Händler und Boten waren unterwegs, und an fast jeder Kreuzung standen kleine, aus Holz gezimmerte Stände, die Waren und Wegzehrung verkauften. Cchraskar schnupperte jedes Mal erwartungsvoll. Aber nur einmal schaffte er es, Alena davon zu überzeugen, dass er jetzt unbedingt ein Stück gebratenes Torquil brauche.
„Das ist ja fast ein Spaziergang“, meinte Alena. Sie schritt kräftig aus und ihre knöchelhohen Lederstiefel wirbelten den gelbgrauen Straßenstaub auf. „Müssen wir jetzt einfach weiter nach Osten?“
„Erst mal ja“, sagte Jorak nach einem Blick auf die Karte, die er mit der übrigen Ausrüstung einem Händler abgekauft hatte. „Aber in der Stadt habe ich gehört, dass ein Erdrutsch vor ein paar Tagen möglicherweise den Hauptweg nach Nerada blockiert hat. Kann sein, dass wir ausweichen müssen, dann brauchen wir ein paar Tage länger.“
„Ach, auf ein paar Tage kommt es doch nicht an“, meinte Alena. „Im Gegenteil, ist doch schön, so zu reisen.“
Das stimmte. Hier im Wald konnten sie sich küssen, ohne dass jemand zuschaute – außer dem garantiert nicht neidischen Cchraskar – und niemand störte sich daran, dass sie sich beim Einschlafen in den Armen hielten. Als sie an ihrem ersten Lagerplatz an einem Waldsaum in Alaak mit einer Formel ein Kochfeuer entzündeten, fühlte sich Jorak einfach nur glücklich. Es wurde gerade dunkel und die Flammen beleuchteten Alenas ovales Gesicht und tanzte auf ihrem rotbraunen Haar. Jorak konnte sich kaum an ihr sattsehen.
Alena blickte ihn unverwandt an. „Was ist, wollen wir mit dem Schwerttraining weitermachen? Selbst wenn du einmal zur Luft-Gilde gehörst, wirst du dich wehren müssen.“
Freude durchflutete Jorak – und verebbte gleich wieder. „Furchtbar gern. Aber ich weiß nicht, ob wir dieses Risiko jetzt, so kurz vor dem Ziel, noch eingehen sollten. In Rhiannon war das mit den Übungen in Ordnung. Aber wenn hier in Daresh jemand beobachtet, dass du mir etwas beibringst ...“
Alena zuckte die Schultern. „Wir lassen uns einfach nicht erwischen. Cchraskar kann Wache halten, während wir üben. Der wittert eine Grollmotte aus einer Tagesreise Entfernung.“
„Eher zwei“, behauptete Cchraskar.
„In Ordnung“, sagte Jorak zögernd.
Alena stand auf und stapfte in den Wald. Nach ein paar Atemzügen hatte sie zwei glatte, gerade Äste gefunden und mit einigen gezielten Tritten auf die Länge eines Schwerts zurechtgestutzt. Dann warf Alena Jorak einen der Äste zu und ging mit dem anderen in Grundstellung. „Ich warne dich“, sagte sie, „das wird anstrengend für dich und blaue Flecken wirst du in nächster Zeit reichlich haben.“
„Blau ist meine Lieblingsfarbe“, behauptete Jorak. Zwar hatte er nicht die Hoffnung, einmal so gut kämpfen zu können wie Alena, aber er wollte sich und sie auf keinen Fall mit seiner schlechten Schwerttechnik blamieren.
Er kreuzte sein Übungsschwert mit ihrem und kurz darauf flogen Rindenstücke in alle Richtungen. Wie versprochen schonte Alena ihn nicht und hatte keine Hemmungen, ihn herumzukommandieren. Das machte Jorak nichts aus. Denn es gehörte eben dazu, wenn man von jemandem lernen wollte, und er lernte für sein Leben gern. Außerdem war Alena trotz ihres rauen Tons eine gute Lehrerin. Sie erfasste schon nach wenigen Atemzügen, wo seine Stärken und Schwächen lagen, und improvisierte Übungen für ihn, die ihn forderten, aber nicht überforderten.
Als sie eine kurze Pause einlegten und sich keuchend an einen Baum lehnten, meinte Jorak: „Du hast echtes Talent dafür, einem etwas beizubringen. Hast du so was schon öfter gemacht, Leute unterrichtet?“
„Nein, aber das sollte ich vielleicht, es macht Spaß“, sagte Alena und trank einen Schluck aus ihrem Trinkbeutel. „Los, weiter geht´s! Wir müssen an deiner Abwehrtechnik arbeiten.“
Sie übten so konzentriert, dass sie beide zusammenzuckten, als Cchraskar ein warnendes Fauchen ausstieß. „Acchtung, jemand kommt! Haben sich gegen den Wind genähert, nah sind sie schon, nah!“
„Wie war das mit der Grollmotte und den zwei Tagesreisen?“, beschwerte sich Jorak. Es war zu spät, um sich zu verstecken, sie schafften es nur noch, ihre Äste ins Gebüsch zu werfen. Keine drei Atemzüge später traten die Wanderer – zwei stämmige Frauen der Erd-Gilde – aus der Dunkelheit in den Lichtkreis des Feuers. Als sie die beiden jungen Leute sahen, wirkten sie erst verblüfft und kamen dann näher. „Wir haben Lärm gehört. Alles in Ordnung, Mädchen, belästigt er dich?“
Der verächtliche Blick, mit dem die beiden Frauen ihn musterten, traf Jorak bis ins Mark. Zum Glück ließ sich Alena nicht aus der Ruhe bringen und antwortete: „Nein, natürlich nicht, ich habe ihn nur nach dem Weg gefragt.“
Das war nicht sehr überzeugend; sie waren beide durchgeschwitzt und Jorak ahnte, dass