„Soll ich mich denn lieber verlaufen als nach dem Weg zu fragen?“ Alena stemmte die Arme in die Hüften.
Misstrauisch blickten die beiden Frauen zwischen Alena und Jorak hin und her. Die ahnen was, dachte Jorak. Er grub die Hände in die Taschen seiner Tunika, senkte den Kopf in der typischen Haltung der Ausgestoßenen und begann davonzugehen. Das wirkte endlich. Als die beiden Frauen verschwunden waren, hob Alena ihr hölzernes Übungsschwert wieder auf und rief: „Du kannst zurückkommen, sie sind weg!“ Als er wieder herangekommen war, fügte sie hinzu: „Hoffentlich sagen sie nicht dem nächstbesten Gildenvertreter Bescheid.“
Das schien Alena wenig Angst einzujagen. Doch Jorak ließ den Ast liegen, mit dem sie geübt hatten. Ihm war der Spaß an der Lektion vergangen. Alena hat etwas Besseres verdient als einen Gildenlosen, ging es ihm immer wieder durch den Kopf. Ich bin nicht gut für sie. Ich bringe sie in Schwierigkeiten. Wie soll das nur weitergehen? Vor allem dann, wenn keine dieser verdammten Gilden mich aufnimmt?
„Lassen wir´s gut sein für heute, ich bin müde“, sagte er laut. Schon bald darauf rollte er sich in seine Decke.
***
Alena schielte zu Jorak hinüber. Er hatte sich auf die andere Seite ihres Feuers verzogen und mit dem Rücken zu ihr gelegt. Es war ziemlich klar, dass er jetzt keine Gesellschaft wünschte.
Ich war zu ungeduldig mit ihm, dachte Alena schuldbewusst. Rostfraß, ich hätte ihn nicht so anbrüllen sollen, als er diesen Abwehrschlag verpatzt hat. Das war sowieso ziemlich dumm von mir, weil uns dadurch diese Erd-Gilden-Glucken gehört haben. Ich scheine doch kein Talent zum Unterrichten zu haben. Schade!
Um sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken, zog Alena ihr Smaragdschwert, legte es quer über ihre Knie und kramte einen Lappen und Polierpaste aus ihrem Gepäck. Sie strich über den grünen Edelstein im Griff, begann dann geduldig die schmale Klinge auf Hochglanz zu bringen. So ein Schwert braucht Jorak, dachte Alena. Einen leichten Zweihänder. Der passt zu dem Kampfstil, den ich ihm beibringen will.
Wenn man die Klinge etwas schräg hielt, konnte man die fein eingravierten Buchstaben lesen, das Gedicht ihres Vaters. Ein Hauch der Ewigkeit, begann es. Das hatte Tavian für Alix geschrieben. Alena seufzte. Sie hatte immer noch keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte, ihre Mutter „wiederzuentdecken“, wie Jorak es vorgeschlagen hatte. Vielleicht sich mit Menschen treffen, die in Alix´ Leben eine wichtige Rolle gespielt hatten? Aber mit wem zum Beispiel? Sie wusste nichts über das Leben von Alix, bevor sie Rena und Tavian kennengelernt hatte. Pa hatte nur erzählt, dass sie Agentin für den Rat der Feuer-Gilde gewesen war.
Als Alena beim besten Willen kein Stäubchen mehr auf ihrer Klinge erkennen konnte, legte auch sie sich zum Schlafen nieder – eine Armlänge von Jorak entfernt, um ihn nicht aufzuwecken. Sie behielt die Hand am Griff ihres Schwerts, denn ihre eigenartige Waffe hatte die Macht, ihr Träume zu senden. Träume, die etwas über die Zukunft verrieten oder ihr halfen.
Doch Alena schlief traumlos und tief.
Am nächsten Tag schien zu Alenas Erleichterung alles wieder im Lot, keine wütenden Gildenvertreter waren erschienen und Joraks Guten-Morgen-Kuss war verliebt wie eh und je. Bei Sonnenaufgang wanderten sie weiter. Je weiter sie sich von Ekaterin, der großen Handelsstadt, entfernten, desto schmaler wurden die Wege; aber immerhin waren sie noch breit genug, um sie mit einem Dhatla benutzen zu können. Sie sahen kaum noch Felder und wanderten jetzt fast nur noch durch tiefe Wälder, rechts und links des Pfades war das Dickicht undurchdringlich. Kühl war es hier, die Kronen der Bäume ließen kaum Sonnenlicht durch.
Cchraskar schlurfte nicht mehr gelangweilt hinter ihnen her, sondern lief voran und witterte immer wieder neugierig, die dunklen Augen blank und aufmerksam. „Nicht viel Dörflinge hierrr“, knurrte er und Alena nickte. Stimmt, ihnen war schon seit längerer Zeit niemand mehr entgegengekommen.
Woran das lag, stellten sie am Nachmittag ihres zweiten Reisetages fest. Erschrocken musterten sie die Verwüstungen vor ihnen: Der Pfad war durch eine gewaltige Schlammlawine verschüttet, feuchte Massen von Matsch und Steinen, durch die sich noch immer Wasserrinnsale schlängelten. Kreuz und quer ragten entwurzelte Bäume aus dem Schlamm hervor. Cchraskar verschränkte die Pfoten. „Iccch gehe da nicht rein, ich nicht!“
Alena versuchte es, sank bis zu den Schienbeinen ein und machte, dass sie wieder zurückkam. „Rostfraß, hier kommen wir nicht weiter!“
Auf einem Baumstamm hockend diskutierten sie, was sie tun konnten. „Vor einer Stunde habe ich gesehen, dass ein Weg abgezweigt ist“, meinte Alena. „Wie wäre es, wenn wir den nehmen?“
Jorak nickte. „An den kann ich mich auch erinnern. Er führt wenigstens in die richtige Himmelsrichtung.“
Der Pfad, der abzweigte, war so klein, dass sie ihn fast übersehen hätten. Aber er war besser als nichts. Cchraskar trippelte auf seinen kurzen Beinen voran, Alena und Jorak folgten ihm. An diesem Abend fanden sie keine Lichtung, auf der sie rasten konnten, und sie mussten sich einen Lagerplatz freihacken. Alena benutzte ihr Smaragdschwert dafür und spürte seinen Widerwillen dagegen, die Pflanzen zu durchschneiden. Schwer und plump lag es in ihrer Hand.
Am nächsten Tag wanderten sie weiter. Und als die Sonne im Zenith stand, fanden sie die toten Vögel. Aufgeregt flitzte Cchraskar im Unterholz umher. „Hier ist einer, und hier noch einer!“, fauchte er. Überall lagen tote Vögel herum, alle Arten waren darunter, vom Rubinvogel bis zum Quidipa. Sie befanden sich in verschiedenen Stadien der Verwesung. Manche schienen gerade erst gestorben zu sein, andere waren nur noch ein zerfleddertes Bündel Federn und Knochen. Ratlos stupste Alena einen der kleinen Körper mit der Schwertspitze an. „Schwer zu sagen, woran der hier gestorben ist. Gebrochener Flügel, glaube ich.“
„Bei dem hier auch“, rief Jorak, der bekümmert einen toten Gelbfeder-Bussard inspizierte. „Was kann hier passiert sein? Es sieht aus, als wäre er gegen ein Hindernis geflogen. Aber er hätte ja blind sein müssen, um die Bäume nicht zu sehen!“
Verstört setzten sie ihren Weg fort.
***
Rena und Tjeri mussten zu ihrem Haus in Vanamee zurückkehren. Noch immer ging es Rena schlecht, sie fühlte sich schwach und apathisch. Es war, als hätte der Tod ihres Baumes ihren Körper jede Kraft gekostet. Die Heilerin der Erd-Gilde, die sie kommen ließen, zuckte nur die Schultern: „So was dauert, du musst dich eben eine Weile schonen.“ Schlimm fand Rena auch, dass ihr nicht einmal ein Stück Holz von ihrem Baum geblieben war – die übereifrigen Diener der Burg hatten den Stamm schon zu Wagenrädern verarbeitet. Ihre Viveca, zu Wagenrädern!
Tjeri wies alle Ratsuchenden ab, die Rena sprechen wollten. Er brachte ihr einen Trank mit Yerba Nierro ans Bett, betrachtete sie besorgt und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Rena musste die Tasse mit beiden Händen halten, um sie nicht fallenzulassen. „Ich muss irgendetwas unternehmen“, sagte sie.
„Verdammt, Rena, du bist krank.“ Tjeri seufzte. „Außerdem gibt es genug andere Leute, die für Daresh verantwortlich sind.“
„Ja, und?“ Rena dachte nach. „Ich glaube, der erste wichtige Schritt wäre, mehr über die Kinder herauszufinden. Dann können wir uns ja immer noch entscheiden, wie man mit ihnen umgehen sollte.“
Tjeri nickte. „Auf jeden Fall wird es besser sein, bald etwas zu tun ... jetzt kann man sie vielleicht noch lehren, dass sie ihre Macht nicht missbrauchen sollten. Vielleicht kann man sie sogar noch dazu bringen, dass sie sich für das schämen, was sie anderen Menschen angetan haben.“
Rena fröstelte und wickelte sich enger in ihre Decken. „Aber wenn sie verwöhnt und mächtig aufwachsen und schließlich Erwachsene sind ... dann sieht´s böse aus für uns alle.“
Sie beschloss in der kommenden Woche nach Karénovia zu reisen. Dort, in der abgelegenen Gegend am Schnittpunkt dreier Provinzen, waren die Kinder aufgewachsen und entdeckt worden.
Wie