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Treffpunkt in der Stadt nennen. Wenn er wirklich so dick ist, schleift er sich bestimmt nicht gerne auf diesen Hügel zur Palastruine rauf. Und was, wenn er nicht mit sich handeln lässt?“

      „Er wird. Zu handeln ist seine Berufung. Er hat aus einem kleinen Stützpunkt am Rand von Nerada ein schwerreiches Netzwerk von Handelsposten gemacht, so was schafft man nur mit viel Geschick.“

      Doch Alena war noch nicht beruhigt. Und so wie ihr Vater nahm sie es ernst, wenn sie ein schlechtes Gefühl hatte. „Er wird nicht allein kommen.“

      „Ich auch nicht. Oder wollt ihr etwa daheim bleiben, Cchraskar und du?“

      „Vergisss es!“, fauchte Cchraskar durch die halb offene Tür.

      „Na also, dachte ich mir“, sagte Jorak und lachte.

      Das Orakel

      Das Mond-Orakel lag am Rand der Alestair-Berge, nahe der Felsenburg der Regentin. Schroff, fast ohne Übergang, erhoben sich die grauen Zinnen des Gebirges aus der grün bewachsenen Ebene, ließen den Tempel an ihrem Fuß winzig erscheinen.

      Neugierig blickte Rena von einem Hügel aus auf den Tempel des Orakels hinunter. Mit seiner Kuppelform glich er einem Erdhaus, aber er war nicht mit Gras überwachsen, sondern schien aus weißem Stein gebaut zu sein. Fünf Baumlängen weit um den Tempel herum schien eine Art Bannmeile zu verlaufen, dahinter sah Rena ein Lager, Dutzende von Menschen in Zelten und provisorischen Unterkünften aus Zweigen. Der Rauch der vielen Feuerstellen stieg ihr in die Nase.

      „Sieht so aus, als hätte das Orakel jede Menge Besuch“, meinte Tjeri.

      Als sie durch das Lager wanderten, sah Rena an Kleidung, Ausrüstung und Gildenzeichen, dass hier Menschen aus ganz Daresh, aus allen Provinzen und Gilden, zusammengekommen waren. Sie tauschte einen Blick mit Tjeri und er nickte. So eilig hatten sie es nicht – erst wollten sie herausfinden, was das hier für Menschen waren. Sie steuerten eine der Feuerstellen an. Fünf Leute der Luft-Gilde – zwei davon mit einem Pfadfindervogel auf der Schulter – saßen dort und kochten gerade in einer geschwärzten Eisenkanne Wasser für Cayoral auf.

      „Friede den Gilden“, sagte Tjeri und hob die Hand. Eine seiner Libellen ließ sich davon nicht stören und hockte weiter auf seinem Handgelenk.

      Ein bärtiger Mann etwa Mitte zwanzig winkte sie näher und lud sie mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen. Er schenkte ihnen zwei Becher Cayoral ein. „Na, wollt ihr auch eine Deutung?“

      „Ich nicht, ich habe in meinem Leben schon ein paar zu viel bekommen“, meinte Tjeri und zog eine Grimasse. „Aber meine Gefährtin hat eine Frage.“

      Der Mann lachte bitter auf. „Na, dann viel Spaß beim Warten!“

      „Wieso? Wie lange seid ihr denn schon hier?“, fragte Rena erstaunt.

      Diesmal antwortete eine junge Frau. „Ich erst seit zwei Wochen, aber er da ist schon drei Monate hier und Grawo schon seit letztem Sommer.“

      „Seit letztem Sommer?!“

      Grawos Gesicht war zerfurcht, seine grauen Haare lang und zottelig. Ganz langsam blickte er auf. Seine Augen waren trübe. Erloschen, dachte Rena. „Meine Tochter wird vermisst“, murmelte er. „Seit letztdem Frühjahr. Wir waren auf Handelsreise durch Alaak, als sie verschwunden ist. Ich muss wissen, was mit ihr geschehen ist. Ob sie noch lebt.“

      Mitleidig blickte Rena ihn an. Die Ungewissheit musste schlimm sein.

      „Aber wieso habt ihr keinen Sucher beauftragt?“, fragte Tjeri verständnislos.

      Der Alte seufzte. „Wisst Ihr, was das kostet? So was kann ich mir nicht leisten.“

      Tjeris Augen waren ganz schmal geworden. Abrupt stand er auf. „Komm, Rena. Wir gehen jetzt zum Orakel. Ich hätte inzwischen auch eine Frage. Nämlich, warum diese Leute hier nicht wenigstens ihr Anliegen vortragen dürfen.“

      Sie bedankten sich für den Cayoral und machten sich auf den Weg.

      „Du wirst ihm helfen, nicht wahr?“, fragte Rena ihren Gefährten leise.

      Tjeri ließ den Blick nicht von den Toren des Tempels, denen sie sich näherten. „Ja, ich übernehme seine Suche und verzichte auf den Lohn.“ Er verzog das Gesicht. „Jedenfalls, wenn wir heil wieder rauskommen und uns das Orakel nicht in ein paar wollköpfige Tunnelschnecken verwandelt.“

      Die zwei Menschenlängen hohen Tore waren aus poliertem Silber, in das ein Abbild des nächtlichen Himmels eingraviert war. Dareshs drei Monde – Ellowen, Deeowen und Benawen – waren in verschiedenfarbigen Metallen eingefügt. Irgendjemand mit viel Geld hält große Stücke auf dieses Orakel, ging es Rena durch den Kopf.

      Vier bewaffnete Wachen standen neben dem Tor stramm. Als Rena sich näherte, hoben sie ihre Schwerter – und ließen sie wieder sinken, als der kommandierende Offizier Rena erkannte und seinen Leuten ein Handzeichen gab.

      „Seid gegrüßt, Rena ke Alaak“, sagte er. „Schön, dass Ihr wieder in der Gegend seid. Ihr sucht eine Deutung?“

      Es hat doch seine Vorteile, berühmt zu sein, dachte Rena. Seit ihren Friedensmissionen war sie auf Daresh bekannt und geachtet. Der Mann vor dem Tor musste ein Offizier sein, der sie aus der Burg kannte. Zum Glück ließ ihr Namensgedächtnis Rena nicht im Stich. „Das tue ich, Lanjo. Außerdem bin ich schlicht und einfach neugierig.“

      „Verständlich. Ich lasse Euch gleich anmelden.“

      Einer der Soldaten verschwand durch einen kleineren seitlichen Eingang und kam kurz darauf zurück. „Geht klar, sie sind bereit.“

      Das große Tor öffnete sich knarrend. Bevor Rena und Tjeri hindurchgingen, winkte Lanjo Rena noch einmal beiseite. Plötzlich war seine Stimme eindringlich. „Wenn ich euch einen Tipp geben darf, Meisterin – fragt sie auf keinen Fall nach ihren ...“

      „Wo bleiben denn diese Besucher?“ Eine schrille Stimme aus dem Inneren schreckte Rena auf. Suchend blickte sie sich um und erkannte eine Erd-Gilden-Frau mit verkniffenem Gesicht, die eilig auf sie zuwatschelte. Sie trug eine kostbare silberne Robe mit dem gleichen Sternenmuster wie das Außentor, doch an ihr wirkte die Kleidung nicht elegant, sondern beulte sich aus wie ein Rübensack.

      „Sie kommen ja schon, Ellba, reg dich ab“, brummte der Offizier.

      Rena und Tjeri gingen in den Innenhof und sahen sich um. Sie standen in einem großen Garten mit Obstbäumen, Büschen und Wiesenflächen. In seiner Mitte erhob sich das weiße Gebäude. Unter den Bäumen liefen drei blonde, dünne und blasshäutige Kinder umher – die Drillinge! Gemeinsam bildeten sie das Mond-Orakel.

      Rena schätzte die Kinder auf acht oder neun Winter. Sie sahen sich so ähnlich, dass es schwer war, sie zu unterschieden.

      Anderskinder nannte man solche Menschen mit besonderen Fähigkeiten auf Daresh. Es kam nur alle paar Jahrzehnte vor, dass eines geboren wurde, und meistens starben sie jung, nicht immer durch natürliche Ursachen. Ein solches Anderskind hatte Rena schon kennengelernt: Moriann, die Tochter einer früheren Regentin. Sie konnte Gegenstände zum Leben erwecken. Eines Tages machte sie den Fehler, in eine der Säulen des Sommerpalasts hineinzugehen ... und fand nicht mehr hinaus. Sie war Herrscherin und Gefangene des Palasts zugleich gewesen, bis das Gebäude im letzten Winter beim Kampf gegen Cano, den einstigen Propheten des Phönix, zerstört worden war.

      Die Kinder beachteten die Besucher nicht. Unbekümmert spielten sie auf der Wiese, als gäbe es im Garten niemanden außer ihnen.

      „Wer seid Ihr?“, keifte die Alte, als sie Rena und Tjeri sah. „Wichtige Persönlichkeiten, ha, Ihr kommt nicht vom Rat, das sehe ich! Wieso haben die Wachen Euch einfach so hereingelassen? Ihr wollt sicher nur die Kinder stören!“

      In Tjeris dunklen Augen blitzte der Schalk auf. Er machte einen Schritt vor und ergriff die Hand der Frau. „Wir sind hier, weil wir schon viel von Euch gehört haben, alle haben uns gesagt, Ellba ist es, die ihr besuchen solltet, Ihr hättet