Doch die Kräfte, die er wahrnahm, erschienen ihm zu stark, um nur die Überbleibsel früherer Zeiten zu sein.
Er versuchte, mit ihnen Verbindung aufzunehmen. Und manchmal schienen sie sich tatsächlich zu zeigen… dann glaubte er dasselbe Leuchten zu sehen, und dieselben Ströme von Energie wie damals, in der Kuppel unter der Erde.
So schwach jedoch nur, dass er jedes Mal an seiner Wahrnehmung zweifelte.
Denn sie sprachen weder zu ihm, noch schufen sie Bilder wie damals. Schließlich wurden seine Ausflüge zu den magischen Orten seltener. Bis er sie irgendwann, traurig und enttäuscht, gar nicht mehr besuchte.
Stattdessen begann er im Park zu laufen, meist nach Einbruch der Dämmerung, wenn die Wege sich geleert hatten. Dann gehörte das Gelände nur ihm - und den wenigen anderen, die so spät noch dort unterwegs waren.
Manche von ihnen mied er. Jene, die im Schutz der Dunkelheit ihren zweifelhaften Geschäften nachgingen, und nicht immer friedlich gestimmt waren.
Manchen hingegen begegnete er gerne.
Männern in teurer Sportbekleidung meist, die - obwohl deutlich wohlhabender als er, wie er beim Laufen nur den Ausgleich suchten. Und weil Vermögensunterschiede in der Finsternis keine Rolle mehr spielten, grüßten sie ihn mit einem flüchtigen Nicken. Dass er ein Waldbewohner war, schien keinen zu interessieren.
Bis auf einen - einen groß gewachsenen, dunklen Mann, der ihm bei jeder der seltenen Begegnungen verschwörerisch zulächelte.
Nantai war sicher, dass auch dieser Mann aus den Wäldern stammte. Doch er spürte, dass der andere trotz des Lächelns keine Nähe wünschte, und machte nie den Versuch, ein Gespräch zu beginnen.
Die wenigen anderen, die er auf seinen nächtlichen Runden traf, waren allesamt Hundebesitzer, darunter ein paar Frauen, die sich trotz der Finsternis in den Park wagten – mit Hunden in einer Größe, die vor jeder Art von Belästigung schützten.
Eine zierliche junge mit blonden Locken fiel ihm auf, weil ihr Hund sich ungemein rasch vom zerzausten Fellknäuel zu einem sehr beeindruckenden Tier entwickelt hatte, und zudem bei jeder Begegnung ein sehr spezielles Verhalten an den Tag legte. Nantai rätselte jedes Mal, ob der Hund wild bellend an der Leine zerrte, weil er ihn mochte... oder nicht?
Irgendwann traf er die Frau nicht mehr alleine. Eng umschlungen und sichtlich verliebt, mit einem jungen Mann unterwegs, ließ ihr Anblick ihn die eigene Einsamkeit schmerzlich spüren.
Und noch eine Hundebesitzerin erregte seine Aufmerksamkeit. Jung, dunkelhaarig, sportlich und ausgesprochen attraktiv, war sie - im Gegensatz zu der Blonden - fast so groß wie er selbst, und besaß einen Kampfhund, der ihr sehr gut gehorchte. Auch ohne Leine trabte das Tier stets dicht neben ihr her, blieb immer nah bei ihr.
Manchmal lief die Frau ein kleines Stück gemeinsam mit ihm, und lächelte ihm dabei zu, ohne ein Wort zu reden. Doch sobald er in den abgelegenen hinteren Teil des Parks einbog, verließ sie ihn. Ob sie sich fürchtete? Trotz ihres Hundes?
Sie gefiel ihm. Noch vor kurzem hätte er sein Glück bei ihr versucht.
Und obwohl er nie mehr als einen Gruß mit ihnen wechselte, wurden ihm all diese Menschen mit der Zeit seltsam vertraut.
Ihm war, als kenne er sie seit Jahren.
Doch erst, wenn er nach dem Laufen innehielt, und die nächtliche Stimmung unter den Bäumen auf sich wirken ließ, wurde ihm bewusst, dass ihm der Park tatsächlich zur Heimat geworden war.
Weil er sich nur hier sicher und geborgen fühlte in dieser Stadt.
Als hielten die Geistwesen ihre schützende Hand über ihn.
Und weil er nur hier das Heimweh vergaß, das, trotz allem, noch immer nicht weichen wollte.
Schicksalhafte Begegnung
Vier lange Jahre lebte Nantai nun in Megalaia.
Und wieder einmal war der Frühling fast vorüber - der vierte, den er fern der Heimat erlebte. Wieder einmal war die Zeit der Vorlesungen zu Ende, und wieder einmal bereitete er sich auf seine Prüfungen vor - zum vorletzten Mal, wie er soeben mit Schrecken festgestellt hatte.
Schon im nächsten Jahr würde er sein Studium abschließen.
Aber seine Gabe hielt sich noch immer vor ihm verborgen. Wie lange würde er in dieser Stadt noch ausharren müssen, ehe sie sich zeigte?
Er saß an dem alten Holztisch, auf dem sich die Lehrbücher zu ansehnlichen Türmen stapelten, und starrte mit gerunzelter Stirn nach draußen, wo sich die Sonne nach Kräften bemühte, den Regen der letzten Tage vergessen zu machen.
Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchstehen kann. Seine Kräfte schwanden. Selbst die Aufenthalte im Park gaben ihm nicht mehr genug Energie, er fühlte sich mit jedem Tag leerer. Wenn er die Stadt nicht bald verließ, würde ihn das Schicksal aller Waldbewohner ereilen, die zu lange in der Stadt geblieben waren. Er würde seine Seele verlieren. Du musst auf die Geistwesen vertrauen. Sie sandten dich nicht ohne Grund hierher. Sie werden dich nicht im Stich lassen. Aber das Lernen fiel ihm heute so schwer, dass er für einen winzigen Augenblick einen Spaziergang im Park erwog. Doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Jetzt waren dort viel zu viele Menschen unterwegs. Wenn er Ruhe suchte - und die suchte er - würde er sich bis zum Abend gedulden müssen. Nur widerwillig beugte er sich wieder über sein Buch, zwang seine Gedanken in andere Bahnen. ...und vergaß die Zeit. Es war dunkel geworden, als er die Wohnung verließ, um mit dem Bus zum Park zu fahren. Wie immer um diese Zeit. Dennoch war irgendetwas heute anders als sonst. Er spürte es, sobald er das Gelände betrat. Und zum ersten Mal begann er den nächtlichen Lauf nicht sofort, sondern blieb unschlüssig stehen und blickte sich um, suchte nach einer Erklärung für das warnende Gefühl im Bauch. Ob es von der Finsternis rührte? Sie hatte sich wie ein Leichentuch über die Bäume gelegt und verlieh ihnen ein ungewohnt düsteres Aussehen… Verspürte er deshalb zum ersten Mal den Hauch einer Bedrohung? ...Denn alles andere schien wie immer zu sein. Nicht weit entfernt ging jemand mit einem Hund spazieren, gefolgt von einem einsamen Läufer. Irgendwo in der Ferne waren Stimmen zu hören, und grölendes Gelächter - aber auch feiernden Nachtschwärmern war er schon oft begegnet, ohne dass sie ihn jemals bedroht hatten. Kopfschüttelnd schob er das warnende Gefühl beiseite - und lief los. Er hatte schon viel zu lange über seinen Büchern gesessen, er brauchte Bewegung. Und wie immer fand er rasch seinen Rhythmus. Spürte mit Freude, wie gut ihm die Anstrengung tat, wie sich die verspannten Muskeln lockerten, wie gierig seine Lungen die kühle Abendluft aufsogen. Er lief schnell, schneller als sonst, und gelangte rasch in den hinteren Teil des Parks, der um diese Zeit normalerweise menschenleer war. Doch heute erkannte er in der Dunkelheit vor sich vier Gestalten - Männer, angetrunken offenbar, denn ihre dunklen Stimmen hallten laut durch den Park, während sie wild gestikulierend auf ihn zu schwankten. Und plötzlich war die dunkle Vorahnung wieder da. Er blieb stehen. Sollte er umkehren? Wegen des dichten Gestrüpps am Wegrand konnte er nicht ausweichen - und wenn er weiterlief, setzte er sich einem Angriff aus… Und während er noch zögerte, entdeckten ihn die vier, und blieben stehen. Er sah, wie sie sich leise berieten. Seine dunkle Vorahnung verstärkte sich. Diese Männer waren eine Bedrohung, das fühlte er deutlich. Er sollte besser umdrehen, sollte einen anderen Weg nehmen…. Davonlaufen…?! Nein! Sein Stolz siegte über die Bedenken. Er würde nicht wegrennen, nicht vor diesen jämmerlichen Gestalten! Obwohl ihm zahlenmäßig überlegen, waren sie keine Krieger wie er, waren außerdem nicht mehr nüchtern. Wenn sie ihn tatsächlich angriffen, würde er sich zu verteidigen wissen. Er entschied weiterzulaufen, und sie freundlich zu grüßen, um jeder Aggression den Wind aus den Segeln zu nehmen - ein Verhalten, das sich in ähnlichen Situationen bewährt hatte. Heute jedoch nicht. Er hatte die Männer kaum erreicht, als zwei ihm den Weg versperrten - sichtbar entschlossen, ihn nicht ohne weiteres vorbei zu lassen. Und ehe er umdrehen konnte, hatten ihm die beiden anderen den Rückweg versperrt. Er saß in der Falle. Aber noch blieb er gelassen. Hoffte noch, sie wollten ihn nur einschüchtern. Bis er die Messer in ihren Händen sah. Jedes Gefühl in ihm erstarb.