Erst beschreibe ich einige weit verbreitete Verfahren der Therapie erst einmal (etwas übertrieben, ganz stimmt es so nicht) als „ich-bezogene“ Heilwege, und wie sie durch Erweiterung des Blicks in letzter Zeit immer mehr zum „Wir“ finden.
Dann berichte ich von der ganzheitliche, systemische Sichtweise und wie das Wissen um die Kraftquellen der Familie im Hintergrund auch unserem „Ich“ gut tut.
Später werden viele Beispiele zeigen, was die Kombination alles möglich macht.
Die Verhaltenstherapie
Ich erkläre zuerst, was ich zuerst gelernt und gemacht habe, die Verhaltenstherapie (abgekürzt VT). Sie ist allgemein anerkannt und gilt als Methode der Wahl bei vielen Störungen. Darum gehe ich ausführlicher darauf ein. Wer schon in der VT bewandert sind, kann dieses Kapitel als Rückschau auf das Bekannte und Wesentliche in ihr genießen. Wer schon alles weiß, darf es auch überspringen.
2/3 aller niedergelassenen Therapeut(inn)en praktizieren VT. Die Grundannahme der VT ist, dass der Drang zum Überleben der Antrieb für unser Leben und Verhalten ist: Wir haben als Kinder Verhaltensweisen gelernt, die damals sinnvoll waren und dem Überleben und Funktionieren in unserer Familie dienten. Manche davon sind später zum Teil nicht mehr angebracht und erschweren unsere Beziehungen. Doch wir können neues Verhalten lernen, das zu unserer neuen Umgebung passt.
Verhalten wird gelernt
Die VT geht auf die Verhaltensforschung mit Tieren zurück. Bekannte Forscher sind Skinner und Pawlow. Skinner hat Versuche mit Ratten in Labyrinthen gemacht und geprüft wie sie neues Verhalten (zum Beispiel auf Hebel drücken) lernen um an Futter (Futterpillen die von einem Automaten ausgegeben werden) zu kommen. Die beiden Antriebe für das Lernen sind die Belohnung (das Futter) und die Bestrafung (Elektroschocks). Natürlich sind auch das Ausbleiben des Futters eine Bestrafung, und das Ausbleiben der Elektroschocks eine Belohnung.
Von Pawlow stammt der berühmte Versuch mit dem Hund und der Glocke. Der Hund bemerkt dass er Futter bekommen soll, und das Wasser läuft ihm im Mund zusammen. Das ist ein schon vorhandenes, automatisches Verhalten, aus dem Unbewussten gesteuert, ein unbedingter Reflex. Beim Futterbringen läutet man mit einer Glocke. Nach einiger Zeit läuft dem Hund schon dann das Wasser im Mund zusammen, wenn nur die Glocke läutet, auch ohne dass Futter kommt. Das ist ein gelernter, ein bedingter (konditionierter) Reflex.
Dieses Modell wird auf den Menschen übertragen. Defizite im adäquaten Verhalten des Erwachsenen werden auf Lerndefizite in der Kindheit zurückgeführt. In der ersten Zeit der VT hat man dem Modell des Lernens so viel Bedeutung beigemessen, dass man dachte, alles sei gelernt, man könne Erbanlagen und angeborenes Verhalten außer Acht lassen. Jemand hat sich sogar zu der Behauptung verstiegen, man könne ein beliebiges Kind, egal aus welcher Herkunft und mit welchen Begabungen, durch Erziehung, durch Belohnung und Bestrafung zur Entwicklung eines beliebigen Berufes, z. B Rechtsanwalt, Künstler oder Kapitän, bringen.
Die Überlebensstrategie - die Absicht des Funktionierens
Diese wichtige Grundannahme der VT ist sehr praktisch, und ist beeinflusst von der Evolutionstheorie: Die Grundabsicht eines Wesens sei das Funktionieren, um zu überleben. Der Mensch, wie auch das Tier, hat Verhaltensweisen als Kind gelernt, die ihm das Überleben sichern. Zum Beispiel schreit ein Kind, wenn es Hunger hat. Das in dieser Situation sinnvolle Verhalten (schreien) wird belohnt (es bekommt die Mutterbrust). Später kann es sein, dass ein früher gelerntes Verhalten nicht mehr angebracht ist - man spricht dann von „dysfunktionalen Verhaltensweisen“, mit denen wir in der neuen Situation nicht mehr richtig funktionieren.
Zum Beispiel: Das Kind ist im Kindergarten und möchte ein bestimmtes Spielzeug von einem Kameraden haben. Schreien führt nicht zum Erfolg. Wenn es schreit, wird es gemieden (Bestrafung). Das Kind lernt, „bitte“ zu sagen und Zeichen der Höflichkeit und Freundlichkeit zu geben. Vielleicht bekommt es dann das Spielzeug.
Vereinfacht gesagt, funktioniert die VT so: Der Klient kommt mit einem Anliegen. Wir schauen, wie das Verhalten und seine Folgen zusammenhängen. Wir schauen, welches Verhalten er ändern muss und möchte, und überlegen uns Schritte die das leichter machen. Das Ziel ist das „Überleben“ – dass er in seinen Beziehungen bleibt und sie stabilisiert, dass er sich versorgen kann, dass sein emotionales Gleichgewicht ihn trägt und am Leben hält.
Verhaltensanalyse
So wie uns allgemein in der Schulmedizin gelehrt wird, haben die Götter vor die Therapie die Diagnose gestellt. Was heißt Diagnose auf griechisch? Durchblick. Ich erinnere mich noch an eine meiner ersten Supervisions-Stunden, als ich meinem Supervisor meine enthusiastischen Heilversuche mit einem Klienten schilderte. Er unterbrach mich mit strengem Blick und fragte ob ich denn außer meiner Liebe auch Therapieziele hätte, und ich solle bitte DREI verhaltensanalytische Sitzungen machen, bevor ich mit der richtigen Therapie beginne. Noch gellen mir diese Worte in den Ohren...
Eine VT beginnt also mit einer Verhaltensanalyse. Darin werden Übertreibungen (Exzesse), was fehlt (Defizite) aber auch Selbsthilfeversuche bezüglich des vom Klienten unerwünschten Verhaltens herausgearbeitet (und im Antrag an die Krankenkasse geschildert, siehe Beispiel unten). Kernstück dieser gedanklichen Arbeit ist eine Aufgliederung des „Teufelskreises“ (der Kausalkette problematischer Verhaltensmuster) in einem hilfreichen Schema, das einem Ablaufdiagramm eines Computerprogramms gleicht – dem SORK- Schema:
S: Situation (Reize, Auslöser)
O: Organismus (Glaubenssätze, Wesenszüge)
R: Reaktion (Verhalten)
K: Konsequenzen (Folgen: negative und positive)
Dazu wird die „aufrechterhaltende Bedingung“ herausgearbeitet, die den Klient hindert, aus dem Kreislauf auszubrechen.
Die selbstlose Krankenschwester
Die abstrakte Theorie erläutere ich am besten nun durch ein Beispiel aus einem Therapieverlängerungs- Antrag, da muss eine solche Verhaltensanalyse enthalten sein. Die Klientin ist eine an einem „burnout“ leidende aufopfernde Krankenschwester.
Bemerkung für Klienten: Keine Angst, die Sachbearbeiter der Krankenkasse lesen solch einen Antrag nicht, sondern er wird anonym in verschlossenem Umschlag an einen weit weg wohnenden Therapeuten geschickt, der ihn begutachtet.)
Verhaltensanalyse:
Exzesse: depressives, selbstanklagendes Grübeln. Jammern, Weinanfälle, Gefühle der Apathie und Leere.
Defizite: Autonome, nicht-leistungsbezogene Aktivitäten, Genießen allein. (Genuss ist nur mit Partner oder Verwandten zusammen möglich.) Behaupten eigener Rechte und Bedürfnisse gegenüber anspruchsvollen Patienten, Verwandtschaft
Qualitativ neues Verhalten: Unsicherheit wegen Überlegungen über Berufsaufgabe und mehr bewusst werdender Spannungen mit Partner
S: (Situation) Rolle einer einsamen Heiligen in der Arbeit. Überfordert sein, Schuldvorwürfe und Spannungen mit Partner.
O: (Organisation der Persönlichkeit) Fachlich patente und kompetente, aber selbstunsichere, zu quälenden Schuldgedanken neigende Krankenschwester, Selbstwertgefühl von Anerkennung, Zuwendung abhängig
R: (Reaktion) Überarbeiten, Selbstvorwürfe bei Erschöpfung, nach Ruhepausen wieder zu schnell wie Stehaufmännchen in die Arbeit rennend. Selbstanklagendes Grübeln. Das Wohlwollen anderer Menschen wird übersehen.
K: (Konsequenzen) Kolleginnen ziehen sich teilweise von überhohen Ansprüchen (an sie selbst, die sie aber auch indirekt an