„Jetzt tun Sie nicht so dumm: Als ob Sie mein Freier wären, meine ich!“, stieß sie hervor.
Hinter ihnen vernahm er ein lallendes: „He, ihr zwei Turteltäubchen. Bleibt doch mal steh‘n!“
„Na los, wir haben keine Zeit für falsche Bescheidenheit!“ Sie presste sich an ihn und mit heiserer Stimme und mit einem für die Gegend typischen, ihr normalerweise nicht eigenen Dialekt rief sie über die Schulter: „Was ‘n los, Jungs, ihr seht doch, dass ich mit meinem Freier hier beschäftigt bin. Der is‘ betrunken wie ‘n alter Schenkenwirt, verdammich nochmal!“
„Täubchen, ich glaub‘ wir könnten mehr Spaß zusammen haben, wenn du ‘n bisschen nett bist zu mir und meinem Kumpel hier… und das Geld von deinem reichen... Freund könnten wir auch gut gebrauchen!“
Die zwei Gestalten waren näher gekommen. Eleonore zog sich die Kapuze noch tiefer ins Gesicht. Es waren zwei völlig heruntergekommene Männer, grobschlächtig und einem fehlten vorne die Schneidezähne. Eleonore boxte Jacob in die Rippen. „Nun machen Sie schon mit, seien Sie betrunken und verhalten Sie sich wie ein Freier!“ Er legte ihr zögernd den Arm um die Schulter. Sie seufzte entnervt auf und schob seine Hand in Richtung ihres Gesäßes. Jacob erstarrte, entsann sich dann aber der Rolle, die sie ihm zugewiesen hatte. Er spürte, dass er ihr hier vertrauen musste, sie kannte die Spielregeln in diesem Teil der Stadt wohl besser als er. Und wenn sie meinte, dass sie sich und ihn so aus der Situation am besten herausbringen könnte... Obwohl erst er sie hineingebracht hatte.
„Jungs, zieht Leine, ihr seht doch, dass ich Kundschaft hab‘ “, gab sie in der schnodderigen Art zurück. Ihre Stimme klang viel reifer als gewöhnlich und rau dabei.
„Ha, der is’ doch so besoffen, der kriegt doch heute und nich’ mal morgen mehr einen hoch!“, gab der Größere der beiden zurück und grabschte nach Eleonore. Jacob versuchte sich vorzustellen, was ein betrunkener Freier nun machen würde und lallte: „He, Finger weg, die gehört mir, ich zzzahl‘ gutes Geld hier, alles klar?“ Dann gab er ihr, ohne weiter darüber nachzudenken, einen Klaps auf ihr Hinterteil. „Nich' wahr, Süße?“
Eleonore zuckte zusammen, er meinte ein böses Funkeln in ihren Augen erkannt zu haben. Gleich fiel sie aber in ihre Rolle zurück. „Jungs, nochmal, zieht Leine. Was glaubt ihr wohl, wie ich an so ‘n reichen Kunden gekommen bin, hä?“
Die beiden sahen sie begriffsstutzig an.
Eleonore klärte sie auf. „Ihr kennt Pat, den „Würger“, Bullcroft?“, stieß sie drohend hervor.
„Alter!“ Der Kleinere zog dem Größeren am Jackenärmel. „Der Würger! Komm wir hauen ab!“
„Quatsch, das kann jeder sagen“, gab der zurück.
Jacob hörte Eleonore scharf einatmen. „Willst du’s drauf ankommen lassen, Süßer?“, fragte sie zurück. „Du weißt ja, was man über ihn sagt. Und glaub‘ mir, ich war schon dabei, wenn er solchen wie euch die Eier zerquetscht hat…“
Das war genug. Die Kerle hatten die Hosen voll und waren außerdem zu betrunken. Sie wichen zurück. Der mit der Zahnlücke fing an zu laufen und schon waren sie in der Gasse wieder verschwunden. Der Regen strömte jetzt so dicht, dass man kaum zehn Meter weit schauen konnte. Eleonore zog Jacob weiter. „Nun gehen Sie in drei Teufels Namen einfach weiter!“, befahl sie. „Und nehmen Sie Ihre Hände wieder zu sich!“
Schuldbewusst steckte er die Hände in die Taschen. Sie löste sich von ihm, was er bedauerte, denn selbst durch das nasse Cape hatte ihr Körper eine angenehme Wärme ausgestrahlt.
„Wer ist Pat, der Würger?“, fragte er schnell, um seine Befangenheit zu überspielen. „Das war doch hoffentlich ein schlechter Scherz, oder? Gibt es den Herren wirklich hier in der Gegend?“
Sie seufzte. „Pat, der Würger, ist ein bekannter und brutaler Zuhälter. Man weiß nicht, wie viel Legende und wie viel Wahrheit an den Geschichten ist.“ Ihre Stimme schlug plötzlich um und klang nun zittrig. Sie stieß hörbar die Luft aus und blieb stehen. „Das war knapp!“
Jacob sah sie besorgt an. „Eleonore, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
„Ja, ich,... es ist nur... mir wird nur gerade etwas übel, das war vermutlich gefährlicher, als mir zuerst klar war!“
„Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie in die Situation mit hineingezogen habe!“ Beschwichtigend legte er ihr die Hand auf den Arm.
Sie sah ihn müde an. „Kommen Sie, ich bringe Sie noch ein Stück weiter, wo Sie wieder eine Droschke finden können. Dann kann Ihnen nichts mehr passieren.“
„Aber dann bringe ich Sie noch heim damit. Haben Sie etwa so lange gearbeitet? Ich kann Sie doch durch solch ein Viertel nicht allein gehen lassen. Um die Zeit und dazu noch dieses Wetter!“, empörte er sich.
Sie atmete noch einmal tief durch, dann gingen sie weiter.
„Sir, erstens wohne ich nicht im ganz gefährlichen Teil des Viertels, und außerdem kenne ich mich hier aus und falle nicht weiter auf. Zweitens laufe ich normalerweise nicht um diese Zeit hier durch, aber mein Arbeitstag ging heute tatsächlich länger als sonst und drittens: Sind sie von allen guten Geistern verlassen, hier noch mal mit der Droschke durchzufahren? Sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen und die nassen Kleider vom Leib kriegen.“ Sie schaute ihn unverwandt an. Dann fuhr sie fort: „Ich komme schon gut zurecht. Außerdem…“, hier versuchte sie ein Lächeln, was ihr aber etwas misslang, „…habe ich ja heute die beste vorbeugende Medizin für Kummer und Sorge genossen!“ Sie spielte wohl auf die Schokolade an, die er ihr aus der Küche gebracht hatte.
„Und,…“, sie klopfte sich gegen die Brust, „…sofern das Buch nicht komplett durchgeweicht ist, habe ich auch noch Zerstreuung.“
Er sah sie besorgt an. „Kann ich Sie wirklich allein…“
„Es ist in Ordnung, glauben Sie mir!“, gab sie in einem Ton zurück, der keine Widerrede mehr zuließ. Sie zeigte auf die nächste Straße, die in einigen Metern Entfernung kreuzte. „Ab da vorne können Sie unbesorgt weiterlaufen, dort ist es sicherer und da bekommen Sie auch über kurz oder lang eine Droschke. Gute Nacht, Sir!“ Sie wandte sich um, ohne abzuwarten, ohne noch einmal zurückzublicken.
„Eleonore“, rief er ihr hinterher, „…ich stehe in Ihrer Schuld!“
Doch schon war sie hinter der Regenwand verschwunden. Er hoffte inständig, dass sie gut zu Hause ankam, denn wenn ihr etwas geschehen würde... Nicht auszudenken, das wäre seine Verantwortung.
An seine Freunde dachte er nicht mehr, die würden schon wissen, wie sie zusammen aus dem Schlamassel herauskämen.
Eine halbe Stunde später schlich er leise die Treppe hinauf. Er hörte durch die angelehnte Tür des Schlafzimmers seiner Mutter die Stimme des Vaters. „In Boston ist genau der richtige Platz!“ Die Mutter erwiderte etwas, das er nicht genau verstehen konnte. Es drangen nur Wortfetzen an sein Ohr: „…richtige Frau an seiner Seite…“
Er war zu müde und zu erschöpft von den Ereignissen, um sich dafür zu interessieren und schloss eilig die Tür seines Schlafzimmers hinter sich.
Er streifte schnell die nasse Kleidung ab und trocknete sich endlich ab. Draußen strömte noch immer der Regen. Er hörte die Tropfen ans Fenster trommeln.
Müde sank er in die weichen Kissen. Eleonore Williams hatte ihn überrascht. Nun ja, eigentlich kannte er sie ja kaum. Wie auch, sie war schließlich ein Dienstmädchen, da gab es wenige Berührungspunkte ihrer Welten. Aus irgendeinem Grund hatte er aber das plötzliche Bedürfnis, mehr von ihr zu erfahren. Über diesen überraschenden Gedanken schlief er ein.
* * *
Eleonore schälte sich aus dem schweren Wollcape. Es triefte vor Regen und schnell hatte sich eine Lache unter ihr gebildet.
Sie war vom langen Tag bis in die Knochen erschöpft und gleichzeitig hatten sie die