Und dann erst hast du eine Chance zu verstehen und nur so kannst du schließlich wissen.“
Dies war eine ihrer ersten Erinnerungen an den Vater. Sie konnte nicht viel älter als drei oder vier Jahre gewesen sein und hatte natürlich nicht ganz erfasst, was der Vater da sagte. Sie war rückblickend auch nicht sicher, ob sie sich tatsächlich an alles erinnerte oder sich die Erinnerung mit den Erzählungen der Mutter mischte, aber sie hatte ein ganz klares Bild vor Augen: Die Küche in der kleinen, einfachen Kate in Cambridgeshire, die ihr aber stets heimelig und warm vorgekommen war, denn ihre Mutter hatte es immer verstanden, trotz der Einschränkungen, ein Heim für sie Drei zu schaffen. Sie hatte nicht nur selbst fest mit beiden Beinen im Leben gestanden, sondern so manches Mal auch noch für ihren Mann, wenn dieser wieder einmal in der Welt der Wissenschaft abgetaucht war.
Eleonore glaubte manchmal, dass ein Teil der Mutter mit ihrem Vater gegangen war, denn deren frühere Tatkraft ließ sich zwar noch erahnen und sie gab sich alle Mühe, aber die Gabe, allem noch das Beste abzuringen, schien immer seltener die Oberhand über den oft tristen Alltag zu gewinnen.
Eleonore konnte es ihr nicht verdenken. Von allem, an was sie sich selbst erinnern konnte, und allem, was sie aus Erzählungen wusste, war die Ehe ihrer Eltern eine der seltenen, erfüllenden Beziehungen gewesen, die tatsächlich auf Liebe, tiefste Zuneigung und gegenseitigen Respekt gründeten. So etwas gab es sonst fast nur in den Geschichten. Eleonore wusste selbst nicht viel von der Liebe. Natürlich hatte ihr einmal der ein oder andere Junge gefallen, und Janes Bruder, der vier Jahre ältere Richard, hatte sie immer so freundlich angelächelt, dass sie eine Zeit lang für ihn geschwärmt hatte, so wie das junge Dinger nun mal taten. Ja, nach dem Weggang der Turners hatte sie sich sogar aus einer romantischen Laune heraus eingeredet, sie empfinde ein wenig Liebeskummer. Aber mittlerweile war sie zu der Überzeugung gekommen, dass sie sich lieber alleine durch das Leben schlagen würde, als einfach irgendwen zum Ehemann zu nehmen. Viel zu häufig hörte man in dem Haus, in dem sie wohnten, wie die Ehepaare stritten, die Männer die Frauen schlugen, die Frauen mit den Kindern zeterten. Manchmal schien ihr alles eine einzige große Misere zu sein. War man da alleine nicht besser dran? Mit Glück hatte man noch eine nette Verwandtschaft, auf die man zählen konnte, ein, zwei gute Freundinnen und... Bücher. Sie wusste, dass diese Gedanken eher ungewöhnlich waren. Kurz blitzte eine Erinnerung auf. Daran wie sie damals in Cambridgeshire mit sieben oder acht Jahren in der Bibliothek des Vaters, die immer für sie offen gestanden hatte, eines Tages auf eine schlecht gedruckte Ausgabe mit dem Titel „Ein Plädoyer für die Rechte der Frau“ gestoßen war. Sie hatte nicht alles verstanden, manches sogar gar nicht, aber vieles war doch hängen geblieben und sie hatte begriffen, dass sie da revolutionäres Gedankengut vor sich ausgebreitet sah. Als sie den Vater später befragt hatte, warum denn die Realität so anders aussah, hatte der nur geseufzt und hatte ihr das Haar zerzaust und geistesabwesend gemurmelt: „Für manches ist die Zeit nicht reif, Eleonore! Mary Wollstonecraft war nicht nur ihrer Zeit voraus, ich fürchte auch der unseren.“
Eleonore wusste, dass es in den besser gestellten Kreisen auch nicht rosiger aussah, was die Motivation von Eheschließungen anging. Wie viele arrangierte Ehen gab es dort und wie viele Liebesheiraten standen dem entgegen? Auch dort wurde doch aus niederen Motiven geheiratet. Vielleicht nicht, um möglichst viele Kinder als Altersabsicherung in die Welt zu setzen, aber zumindest, um Geld und Macht und Ruhm zu vermehren.
Außerdem, davon war sie überzeugt, war sie aufgrund des Wissens, das ihr zuteil geworden war, und der Fähigkeit, die Dinge zu hinterfragen, gar nicht in der Lage für tiefe, blinde Liebe. Dass das eine das andere gar nicht ausschloss – schließlich hatte ihr Vater auch die Mutter bedingungslos geliebt, obwohl er Eleonore den Grundsatz des ständigen Hinterfragens beigebracht hatte – und sie mit ihren achtzehn Jahren und ohne jemals geliebt zu haben, gar nicht so viel Abgeklärtheit besaß, die Dinge auf solch eine einfache, wenn auch unschöne Weise zu erklären, dass für solch ein Urteil eine ganze Portion mehr Lebenserfahrung nötig gewesen wäre, das sah sie natürlich nicht.
* * *
„Wir werden jemanden vor Ort brauchen, dem wir voll und ganz vertrauen können, Vater. Bei dem wir sicher sein können, dass er unserer Geschäftspolitik treu ergeben ist. Gerade nach dem Smith-Debakel...“
Jacob hielt die Luft an. Man konnte nie ganz sicher sein, wie der Vater darauf reagieren würde, wenn er das heikle Thema ansprach. Theobald Smith war einer ihrer besten Buchhalter gewesen. So gut, dass der Vater ihn mit der Aufsicht über das kleine Außenbüro in Kalkutta betraut hatte. So gut, dass er die Zahlen nicht in Frage gestellt hatte, die Smith ihnen aus Indien gesendet hatte.
Dass Theobald Smith, diesem Inbegriff eines durch und durch britischen Buchhalters, von den gelackten Schnurbartspitzen bis hin zu den Ärmelschonern, die tropisch-feuchte Hitze Indiens derart zu Kopfe steigen würde und er den Verlockungen vor Ort – von indischen Kurtisanen über Opium, so munkelte man – nicht standhalten konnte und er anfing, Gelder zu eigenen Zwecken abzuführen, das war ihnen erst zu spät aufgegangen. Smith war sehr geschickt vorgegangen und die Kronkolonie hatte für solche Zwecke eine wirklich komfortable Entfernung zum verregneten Mutterland. Dass Smith den glutäugigen Exotinnen nicht hatte widerstehen können, das konnte man ja noch nachvollziehen. Jacob hatte von heimgekehrten Offizieren so einiges munkeln gehört, über ihre Schönheit, über ihre Samthäutigkeit und ihre Geschicklichkeit bei gewissen Dingen, über die selbst in den Herrenclubs, in denen die Gentlemen unter sich waren, nur in Andeutungen gesprochen wurde. Aber dass Smith dafür Gelder veruntreut hatte und dann auch noch dem Opium verfallen war, und ausgerechnet Smith, der kleine, verstockte, überkorrekte Smith...
Und Jacob war der Meinung, dass die Löhne bei Bradford&Sons für die kaufmännischen Angestellten im Gegensatz zu denen der einfachen Arbeiter alles andere als schlecht waren.
Der Vater hatte damals selbst für einige Monate nach Indien reisen müssen, um die Geschichte wieder in Ordnung zu bringen und hinter Smith aufzuräumen. Eine unangenehme Episode war das gewesen. Jacob war noch zur Universität gegangen und hatte davon nur in Briefen und während seines Heimaturlaubes gehört.
„Der hinterhältige...“ Sein Vater ballte die Faust, riss sich aber gerade noch zusammen, bevor ihm ein Fluch entfuhr.
„Du hast Recht, wir müssen dieses Mal mit noch größerer Sorgfalt an die Sache heran gehen. Wenn das Geschäft in Amerika Erfolg haben soll, dann müssen wir von Anfang an jemanden schicken, der weiß, was er tut.“ Sein Blick ruhte lange und nachdenklich auf Jacob, dann schaute er aus dem Fenster. Das Büro lag nahe der Lombard Street und somit in exklusiver Nachbarschaft zu Banken, Versicherungen und anderen Handelshäusern.
„Ich werde mir dazu noch etwas einfallen lassen. Nun lass uns aber den Zahlen des letzten Monats zuwenden. Ich würde hier gerne deine Meinung hören“, schloss Bradford Senior das Thema Boston für den Moment.
Jacob war insgeheim belustigt. Dies war einer der vielen kleinen, beiläufigen Tests, die sein Vater ihm stellte. Der alte Herr hätte es nie zugegeben, aber seit Jacob nach Beendigung der Studien an der Universität im väterlichen Unternehmen eingestiegen war, wurde er einer sehr genauen Prüfung unterzogen. Damit versicherte der Vater sich, dass sein Sohn fähig war, in seine Fußstapfen zu treten.
Bradford Senior hatte nie viele Worte gemacht – im Gegensatz zur Mutter, aber vielleicht war genau das der Grund, denn bei Harriet Augusta Bradford kam man nur zu Wort, wenn sie Luft holte, oder um ihr beizupflichten. Jacob fragte sich manches Mal, wie der sachliche, nüchterne Mann es mit dieser Frau aushielt. Die beiden waren ein typischer Fall von einer Ehe, die zur Vermehrung von Kapital und Ansehen geschlossen worden war. Jacob kannte das nicht anders aus seinen Kreisen und ihn erwartete ja Ähnliches. Er setzte aber insgeheim darauf, dass er einen gewissen Einfluss auf seinen Vater geltend machen könnte, wenn es um die Wahl der Frau ging. Der Vater musste ja schließlich gut genug wissen, wie es war, mit einer Frau verheiratet zu sein, deren Charakter und Eigenschaften zu verschieden zu den eigenen waren. Jacob seufzte. Wenn er das alles doch nur so leicht nehmen könnte, wie beispielsweise Thomas. Der war in alles verliebt, was mit weiblichen Vorzügen ausgestattet war, und machte sich keine Sorgen um die