„Meine Lieben“, erklärte Josef treuherzig, wenn Karolina wieder über Friederikes Ehelosigkeit in Verzweiflung ausbrach, „ich bin ein Kaufmann und bin es gewohnt, in kühlen Zahlen zu kalkulieren. Aber ich versichere euch, diese, unsere Welt, wäre arm ohne Poesie, und was wäre poetischer, als die liebende Vereinigung zweier Herzen?“
Josef sah Karolina dann immer auf eine Art an, die Friederikes Mutter zum schmelzen brachte. In diesen Momenten spürte die junge Frau, dass ein starkes gefühlsmäßiges Band zwischen ihren Eltern bestand, so unterschiedlich diese mitunter auch zu sein schienen.
An diesem Sommertag verspürte sie Poesie in ihrem Herzen, denn sie hatte zufällig gehört, dass die Celeste in New York einlaufen würde und als sie dies erfuhr, sah sie vor ihrem geistigen Auge das schüchterne Lächeln eines schottischen Schiffsoffiziers. Sie glaubte Timothy Arguilles Stimme zu hören. Der Name Celeste und der Gedanke an Timothy Arguille brachte eine Seite in ihr zum klingen, die sie kaum kannte und die sie daran erinnerte, wie sie einmal für Friedrich Baumgart empfunden hatte.
So war sie unter einem Vorwand aus dem Haus der Eltern gegangen, hatte die Mietkutsche angehalten und war zum Hafen gefahren. Nun saß sie hier in der Kutsche und ihre Nervosität stieg an. Vor zwei Stunden war R.M.S. Celeste in den Hafen New Yorks eingelaufen und die Passagiere waren bereits von Bord gegangen, die Fracht wurde entladen und Friederike fühlte eine steigende Unsicherheit. Timothy Arguille wusste nicht, dass Friederike auf ihn wartete und sie wusste nicht einmal, ob ihm dies recht sein würde. Sie hatten sich Jahre nicht gesehen. Sie hatten nicht einmal Vertraulichkeiten miteinander ausgetauscht. Doch etwas drängte sie danach, ihn wiederzusehen.
Nervös nahm sie das kleine Opernglas vor die Augen, welches sie heimlich mitgenommen hatte, und spähte zu dem Postschiff hinüber. Sie zog die Schärfe nach, bis das verschwommene Bild Konturen gewann und konnte die Celeste nun besser erkennen. Sie sah ein Beiboot vom Schiff ablegen und glaubte, blau uniformierte Seeoffiziere zwischen einigen Matrosen zu erkennen. Ob einer von ihnen Timothy Arguille war? Sie konzentrierte sich auf die näher kommende Pinasse der Celeste und ihre Unsicherheit wuchs, als sie ihn zu erkennen glaubte. Ja, ja, jetzt sah sie ihn deutlicher und es war Arguille. Das Herz schlug ihr bis zum Halse.
Für einen Moment kam sie sich lächerlich vor, hier, versteckt in einer Kutsche sitzend, in den Hafen hinunter zu spähen und einen Mann zu beobachten, der vielleicht gar nichts von ihr wissen wollte. Sie setzte das Opernglas ab und klopfte mit dem Sonnenschirm an das Kutschendach.
„Madam?“ Der Kutscher beugte sich mit fragendem Gesichtsausdruck zu der kleinen Scheibe, die zwischen Innenraum und Kutschbock angebracht war und die mit einem Schieber geschlossen werden konnte.
„Wissen Sie, wo die Boote der Celeste anlegen?“
Der Kutscher nickte. „So ungefähr. Wollen Sie hin, Madam?“
Sie nickte aufgeregt und der Kutscher fuhr an. Die Strecke war nur kurz und jeder zurückgelegte Meter steigerte Friederikes Nervosität. Lieber Herrgott, was tat sie hier nur? Stellte sich an wie ein kleines Mädchen. Sie umklammerte Sonnenschirm und Opernglas, als würden die Gegenstände ihr Halt geben. Sie bemerkte dass die Kutsche langsamer wurde, als sie nun das geschäftige Treiben des Hafens erreichten.
„Wo legen die Boote von der Celeste an?“, hörte sie den Kutscher fragen.
„Noch ein Dock weiter, guter Mann“, hörte sie eine Stimme, die ihr so schrecklich bekannt vorkam.
„Halten Sie an!“, rief sie hastig, als die Kutsche an dem Sprecher vorbeifuhr. Ja, das war Timothy Arguille. Oh Gott, er war es wirklich. „Anhalten!“ Als die Kutsche hielt, war der junge Seeoffizier schon ein Stück weitergegangen und Friederike riss hastig den Schlag auf. „Leutnant Arguille!“
Sie sah, wie er stutzte und verharrte. Verwirrt sah er sich um und als er sie erkannte, wurde sein Blick ungläubig. Dann bildeten sich die ihr so bekannten Grübchen auf seinen Wangen, als er breit lächelte. Während er näher trat, stieg Friederike aus der Kutsche. Dann standen sie sich gegenüber, sahen sich einen Moment schweigend und gleichermaßen unsicher an.
„Hallo, zweiter Offizier Timothy Arguille“, sagte Friederike schließlich. „Ich hoffe, Sie erkennen mich noch.“
„Erster Offizier“, korrigierte er unbewusst und sie vernahm sein verlegenes Räuspern. „Gnädige, äh, Frau?“
Sie erkannte den Sinn seiner Frage und schüttelte lächelnd den Kopf. „Fräulein Ganzweiler, Herr erster Offizier Timothy Arguille. Und nun?“, sagte sie leise und ihr Herz pochte wie wahnsinnig. „Werde ich nun geküsst oder muss ich erst ohnmächtig werden?“
Zum ersten Mal lag sie in seinem Arm und sie spürte, dass sie hierhin gehörte. Sie fühlte seinen aufgeregten Herzschlag durch den Wollstoff der Uniform. Ihre Lippen fanden sich ganz selbstverständlich und sie beide merkten nichts von dem Gedränge um sich herum. Als sie sich voneinander lösten, erröteten sie beide und mussten lachen.
„Komm in die Kutsche, Timmy“, sagte sie fröhlich. Dann musterte sie ihn besorgt. „Oder…, ich meine, ich weiß gar nicht…“
„He.“ Er grinste wieder und bot ihr seinen Arm, half ihr galant in das Gefährt hinein. Die Kutsche wankte ein wenig, als Friederike über den Tritt ins Innere stieg und sich auf die gepolsterte Bank setzte. Timothy Arguille hielt den Griff des Schlages in der Hand und zögerte. „Ich, äh, ich weiß gar nicht…“
Friederike hielt ihm ihre behandschuhte Hand entgegen. „Ich habe gewartet, Timmy. Du verstehst, was ich meine?“
Der junge Seeoffizier nickte langsam. „Ich auch.“
Er stieg zu ihr und nahm neben ihr Platz. Ihre Hände fanden sich und sie lächelten sich an. Jedes Wort schien unnötig zu sein, obwohl sie sich doch so viel zu sagen hätten.
Der Kutscher über ihnen bewegte sich unruhig und beugte sich zu der kleinen Trennscheibe. „Verzeihen Sie, Madam, soll ich noch warten oder soll ich Sie jetzt irgendwohin bringen?“
„Irgendwohin, wo es ruhig ist und wo wir miteinander reden können“, antwortete Friederike unkonzentriert. Sie spürte kaum, wie die Kutsche nach einem kurzen Moment anruckte.
„Ich muss gestehen, dass ich sehr viel für dich empfinde“, sagte Timothy Arguille langsam. „Seit ich dich zum ersten Mal auf der Celeste sah. Wie du an Bord kamst und neben deiner Mutter gestanden hast. In diesem blauen Kleid. Deine Haare haben wie Gold geglänzt.“ Er räusperte sich und Friederike spürte, dass er Angst verspürte, seine Worte könnten ihren Widerwillen hervorrufen. Beruhigend drückte sie seine Hand. „Ich bin fast verrückt geworden“, fuhr er fort, „weil ich mich dir doch nicht nähern durfte, du verstehst? Schiffsoffiziere und Passagiere, das ist ein Tabu. Der Kapitän hätte mich kielgeholt.“ Friederike wusste nicht genau, was das war, nur, dass es sich um eine sehr alte Form der Bestrafung auf Schiffen handelte. Doch um nichts in der Welt wollte sie ihn jetzt unterbrechen. Jetzt, da sich ihre Gefühle offenbarten. „Ich bin nur ein einfacher Schiffsoffizier, du verstehst? Ich bin ständig unterwegs, nur selten und nur kurz in einem Hafen…“
Sie legte den Kopf kaum merklich an seine Schulter und die Bewegung verschob ihren Hut. Friederike nahm ihn ab und warf ihn achtlos auf die gegenüberliegende Polsterbank. „Ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt, Timmy. Nicht, wenn man sich zugetan ist.“
Timothy Arguille räusperte sich. „Friederike Ganzweiler, ich, äh, ich liebe dich. Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt.“ Er löste ihren Kopf von seiner Schulter und blickte sie ernst an. „Würdest du… äh, ich meine, würdest du meine… meine…“
Er verstummte unsicher und Friederike hob ihre Hände, streichelte über seine Wangen. „Ja, das würde ich, erster Offizier Timothy