Dem Kapitän war bewusst, dass der Engländer sie erreichen würde, bevor die Marbelle amerikanische Hoheitsgewässer erreichte. De Croisseux rief ein paar Befehle nach unten. Die Baumgarts und Kahlmann wichen zurück, als Mannschaftsmitglieder verdreckte und verängstigte Schwarze an Deck zerrten und zur Reling schoben.
„Was soll das?“, fragte Karl unsicher.
„Ihr werdet es gleich sehen“, sagte Lerousse angespannt.
Die Fregatte kam näher und es wurde deutlich, um wie viel größer sie war. Von der Gaffel des Schiffes flatterte eine übergroße weiße Fahne, mit dem roten Georgskreuz und einem kleinen Unionjack in der oberen Ecke. „Welche Ehre“, spottete Lerousse. „Sie haben sogar die Kriegsflagge für uns gehisst.“
„Nah genug!“, rief der Kapitän. „Sie können alles sehen.“
Matrosen hoben die schwarzen Sklaven auf die Reling. Friedrich stöhnte auf, als ihm klar wurde, was geschehen würde und dass er und die anderen erneut hilflos waren. De Croisseux gab einen Wink und mit einem Aufschrei wurde der erste Sklave ins Wasser hinabgestoßen. Noch immer in eisernen Handfesseln verschwand er rasch unter der Oberfläche. Der Kapitän wartete einen Moment, winkte erneut, dann wieder und wieder. Jedes mal starb ein hilfloser Mensch und es ließ die Besatzung der Marbelle scheinbar völlig ungerührt.
Plötzlich drehte die englische Fregatte ab. De Croisseux nahm seine Schirmmütze ab und winkte spöttisch hinüber. „Verdammt, diese englischen Bastarde haben sich Zeit gelassen. Das hat uns eine Menge Geld gekostet.“ Er sah die Baumgarts an. „Sie drehen jedes Mal ab, wenn ihnen klar wird, dass wir sonst alle Schwarzen über Bord werfen. Sind zu weich, die Briten. Natürlich werden sie sich bei den Yankees über uns beschweren, aber Sklaverei ist hier noch nicht verboten. Und außerdem, “ er blickte zum Bug und lächelte erneut, „sind wir jetzt in amerikanischen Gewässern. Willkommen in Amerika.“
Hinter ihnen verlangsamte das englische Kriegsschiff seine Fahrt und drehte ab, während vor ihnen die Küste Amerikas immer größer wurde. Der Verkehr wurde dichter. Immer mehr Schiffe liefen auf einen bestimmten Punkt an der Küste zu oder entfernten sich von ihm.
„Da vorne liegt Charleston“, erklärte Lerousse. „Manche sagen, die Stadt sei das Herz Amerikas und nicht dieses kalte Washington, oben im Norden.“
Sie fuhren in eine Bucht ein und erkannten an ihren Rändern Befestigungsanlagen. Meist waren es nur die typischen Schanzen von Küstenbatterien, aber vor ihnen, im Hafen selbst, erhob sich eine wuchtige Kontur über der das Sternenbanner flatterte.
„Fort Sumter“, sagte der Kapitän.
Sie musterten die Festung, während die Marbelle an ihr vorüber glitt. Das Fort war ein unschöner eckiger Kasten mit dicken Mauern. Als kleine Insel ragte es mitten im Wasser auf, ohne jegliche feste Verbindung zum Land. Die Wände schienen gespickt mit Schießscharten. Die Marbelle grüßte die amerikanische Hoheit durch das Dippen ihrer Flagge. De Croisseux wies auf die vorbei gleitende Festung. „Die Yankees lieben es, sich mit anderen zu schlagen. Erst haben sie mit den Engländern gegen die Franzosen um den Kontinent gekämpft, dann mit den Franzosen gegen die Engländer um ihre Unabhängigkeit. Nachdem sie die hatten, kämpfen sie gegen alles Mögliche. 1814 haben sie den französischen Kaiser unterstützt und das englische Kanada angegriffen, und vor ein paar Jahren schlugen sie sich mit den Mexikanern. Zwischendurch vergnügen sie sich mit den Indianern.“ Der Kapitän lachte leise auf. „Wenn sie nichts mehr haben, wogegen sie Krieg führen können, dann werden sie sich untereinander bekämpfen.“ De Croisseux sah die Deutschen ernst an. „Das gilt auch für die Leute, die hier leben. Haltet eure Zungen im Zaum, ich rate es euch. Hier duelliert man sich noch aus den merkwürdigsten Anlässen. Und glaubt nicht, man wird sich hier über ein paar tote Schwarze aufregen. Man regt sich ja nicht mal über ein paar tote Weiße auf.“
Die Vier verstanden den versteckten Wink durchaus. Das Schiff schob sich tiefer in den weitläufigen Hafen. Ein kleiner Kutter näherte sich. Er führte die Lotsenflagge. Rufe wurden zwischen einem Uniformierten und dem Kapitän ausgetauscht, dann steuerte de Croisseux sein Schiff auf eine der Anlegestellen zu und ankerte. Rings um die Marbelle herrschte geschäftiges Treiben. Die Anlegestellen waren voller Menschen und Waren. Mehrere Arbeiter halfen beim Vertäuen des Schiffes und fixierten die Planke, welche die begehbare Verbindung zwischen der Marbelle und dem Kai bildete. Die Arbeiter waren schwarz und das verwirrte die Deutschen.
Pierre Lerousse lachte. „Das ist die Arbeitskraft des Südens, meine Freunde. Seht ihr die Lagerhäuser dort? Sie sind voller Baumwolle. Holz und Baumwolle, das sind die großen Exportartikel. Vor allem England ist ein wichtiger Handelspartner. Habt ihr schon mal die riesigen Webereien in England gesehen?“
„Sagen die Engländer denn nichts gegen die Sklaverei hier?“
Lerousse sah Hans an. „Junge, sei nicht so naiv. Hast du schon mal gesehen, wer in den britischen Webereien arbeitet? Die brauchen keine Sklaven, die haben ihre Kinder.“
Aus einem großen Viermaster wurden Tuchballen, Fässer und Kisten an Land gebracht. Ein vornehm gekleideter Mann schob sich durch das Gedränge und die Schwarzen machten ihm eifrig Platz. Der Mann näherte sich der Marbelle und betrat die Planke ohne Zögern. Er rümpfte die Nase, als ihm der typische Geruch des Sklavenschiffes entgegen schlug.
Der Mann blickte de Croisseux an und umarmte ihn lächelnd. „Mein lieber Freund, du solltest dein Schiff dringend lüften. Es riecht erbärmlich.“
Der Kapitän lachte auf. „Es riecht nach Geld, mein Freund.“
„Ich hoffe, es ist gute Ware.“ Der Mann blickte gleichgültig über Deck. „Du kommst genau richtig. Morgen ist Auktion bei Grummond. Sind jetzt schon eine Menge Plantagenbesitzer in der Stadt, die daran teilhaben wollen. Charleston entwickelt sich, mein Freund.“
„Ja, das sehe ich“, erwiderte de Croisseux.
„Gut, dann bring die Ware in mein Lager. Wahrscheinlich werden wir sie wieder erst säubern und ausstaffieren müssen, damit sie einen guten Preis erzielen. Wie viele hast du?“
„Ich denke, es werden noch um die 250 sein. Es gab Verluste, du verstehst?“
„Es gibt immer Verluste, mein Freund. Wer ist das?“ Der Mann wies auf die vier Deutschen. „Sie wirken ein wenig echauffiert.“
„Einwanderer“, sagte de Croisseux lakonisch. „Sie sind ein wenig unerfreut wegen der Sklaven.“
Der Mann lachte auf. „Yankeementalität. Sie sollten nach Norden gehen. Preußen?“
Karl schüttelte automatisch den Kopf. „Wir sind Deutsche.“
„Oh.“ Der Mann lachte amüsiert. „Und wir hier sind alle Amerikaner.“ Er lachte erneut. „Die einen mehr, die anderen weniger.“
Die vier Deutschen fühlten sich unwohl. Es drängte sie, vom Schiff zu kommen, auf dem sie so viel Elend und Tod erlebt hatten. Sie gingen nach unten, packten ihre Bündel und Lerousse und de Croisseux sahen zu, wie sie die Marbelle grußlos verließen. Der Kapitän blickte sie an und lächelte verständnisvoll.
Die drei Brüder Baumgart und ihr Freund Bernd Kahlmann eilten vom Schiff fort, hatten genug vom Wasser und dem Anblick von Ketten. Ein wenig abseits des Gedränges hielten sie an, blickten zum Hafen hinüber und sie waren sich nicht sicher, ob sie den richtigen Entschluss gefasst hatten, nach Amerika zu kommen. Immerhin, sie waren da. Doch sie hatten nicht die geringste Vorstellung, wie es weitergehen sollte.
Ziellos schlenderte sie durch die Straßen und sogen die Eindrücke in sich auf. Was ihnen zuerst auffiel, das war die Tatsache, dass die meisten Gebäude aus Holz errichtet wurden. Keine billigen Hütten, sondern prachtvoll gearbeitete mehrgeschossige Gebäude. Weiß war die vorherrschende Farbe. In der Innenstadt gab es sogar gepflasterte Straßen. Vor den meisten Häusern führten zumindest geplankte Bürgersteige entlang, überdacht und von sorgfältig und kunstvoll bearbeiteten Säulen gestützt.